Alan Turing in der Oper
Geschrieben am 13.12.2022 von HNF
Das Leben des Mathematikers, Kryptologen und Computerpioniers Alan Turing wurde schon im Theater, im Kino und in Fernsehfilmen behandelt. In den 2010er-Jahren schuf die New Yorker Komponistin Justine Chen eine Turing-Oper; 2019 fand eine konzertante Aufführung statt. Kürzlich erlebte in Nürnberg eine weitere Oper über Turing ihre Premiere. Die Musik schrieb der Aachener Anno Schreier.
Opern zur Wissenschaft gab es früh; wohl die erste war 1750 Die Welt im Monde vom Venezianer Baldassare Galuppi. 1957 schuf der deutsche Komponist Paul Hindemith „Die Harmonie der Welt“ über Johannes Kepler; sein Kollege Paul Dessau vollendete 1973 eine Einstein-Oper. Mit dem Mathematiker Georg Cantor befasste sich der österreichische Tonkünstler Ingomar Grünauer. „Die Vermessung des Unendlichen“ geriet nach der Premiere 2006 in Halle aber schnell in Vergessenheit.
Das bleibt den beiden nächsten Opern hoffentlich erspart, denn sie behandeln Alan Turing. Der englische Mathematiker, Kryptologe und Computerforscher war bereits Thema von zwei Bühnenstücken, zwei Spielfilmen und zwei TV-Produktionen – wir erwähnten sie im Blog. Anlässlich seines 100. Geburtstags im Jahr 2012 hatte das in New York ansässige American Lyric Theater die Idee einer Turing-Oper. Jenes Theater besitzt keine eigene Bühne, es initiiert Musikstücke und organisiert Aufführungen in Kooperation mit anderen Häusern.
Den Auftrag für die Turing-Oper erhielten der Librettist David Simpatico und die Komponistin Justine Chen. Simpatico wurde 1960 in Hoboken im US-Bundesstaat New Jersey geboren; er wohnt im Städtchen Rhinebeck nördlich von New York. Justine Chen ist Jahrgang 1975; sie wuchs im New Yorker Stadtteil Brooklyn auf und zeigte ein herausragendes musikalisches Talent. Sie absolvierte die berühmte Juilliard School und trat zunächst als Geigenvirtuosin hervor. Sie wechselte dann ins Kompositionsfach und erwarb darin auch den Doktortitel.
2017 lag die erste Fassung ihrer Oper „The Life and Death(s) of Alan Turing“ vor. Das Libretto nahm die Hauptpunkte aus Turings Biographie auf, der Plural „Death(s)“ deutete an, dass es zu seinem Ableben mehr als eine Theorie gab. Hier und hier finden sich Clips aus einer Aufführung in New York mit Klavierbegleitung. Die Betaversion der Oper mit einem Orchester wurde 2019 in Chicago gezeigt; das ist ein Ausschnitt. Alan Turing ist der rechte der beiden Herren; ihn sang der Bariton Jonathan Michie. In diesem Video können wir Michie auf Deutsch hören.
Am 23. März 2023 soll die Uraufführung auf einer richtigen Opernbühne stattfinden, im Chicagoer Harris-Theater. Die Website des American Lyric Theaters bringt schon jetzt das Libretto, den Klavierauszug und die Partitur, bitte ganz nach unten scrollen. Die Oper hat gleich vier Schlüsse; der längste ist der vierte, in dem Alan Turing in einem elektrischen Tsunami gen Himmel fährt. Sie endet mit den Worten „I’m coming – Christopher“. Gemeint ist Turings junger Schulfreund Christopher Morcom, der 24 Jahre vor ihm starb.
Unsere zweite Oper hat ihren Start bereits hinter sich; am 26. November ging sie über die Bühne des Staatstheaters Nürnberg. Komponiert wurde Turing von dem 1979 in Aachen geborenen Anno Schreier; der Text stammt vom Chefdramaturgen des Staatstheaters, dem 48-jährigen Georg Holzer. Hier sieht man die beiden in mehreren Videos. Ihre Oper folgt ebenfalls Alan Turings Biographie und erwähnt Christopher Morcom. Der Computerpionier hat in Nürnberg eine Tenorstimme. Bei der viel beklatschten „Turing“-Premiere gehörte sie Martin Platz – das ist eine seiner Arien.
Schreiers Werk umfasst zwei Akte. Der erste endet 1945 im Entschlüsselungszentrum Bletchley Park, der zweite 1954 mit Turings Tod zwei Jahre nach seiner Verurteilung wegen Homosexualität. Die Oper schließt mit einem Choral und wie bei Justine Chen mit der Himmelfahrt des Helden. Die Handlung wird fünfmal durch instrumentale Zwischenspiele unterbrochen, die eine „Turingmaschine“ darstellen. Musikalisch wandelt Anno Schreier auf den Spuren der Minimal Music und von Komponisten wie Philip Glass, doch fügte er eine Menge Rhythmus und Drive hinzu. Das Anhören der Oper machte uns jedenfalls Spaß.
Die für Informatiker interessanteste Figur im Stück ist Madame KI, die Verkörperung der Künstlichen Intelligenz. Sie wird von der griechisch-kanadischen Sopranistin Andromahi Raptis gesungen. Eine Muse, die den Helden begleitet, kennen Opernfans aus „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach. Sie heißt dort Niklaus und tritt als Freund des Autors E. T. A. Hoffmann auf. Madame KI beschwört ihren Freund Alan: „Erfinde mich, Turing! Ich bin in deinem Kopf! Hol mich raus, setz mich in die Welt! Ich hab schon zuviel Zeit in deinem Kopf verbracht. Zeig den Menschen das, was sie überflüssig macht.“
Technikhistoriker sehen die Genese der KI anders, doch wir wollen nicht so streng sein. Dieser Link führt zu der Partitur von „Turing“ (Copyright Schott Musik Group). Der Download klemmt gelegentlich, in diesem Fall einfach noch mal probieren. Hier geht es zu weiteren Arien von Andromahi Raptis, und das ist ein Turing-Oratorium aus dem Jahr 2014 mit den Pet Shop Boys. Unser Blogbeitrag von 2017 erzählt von den eigenen musikalischen Ideen des Computerpioniers. Das Eingangsbild oben kommt vom Staatstheater Nürnberg und wurde vom Fotografen Ludwig Olah aufgenommen. Es zeigt Martin Platz als Turing in „Turing“.