Chat mit dem Kanzler

Geschrieben am 24.07.2018 von

Im Juli 1998 begann der Bundestagswahlkampf, bei dem erstmals auch das Internet eine größere Rolle spielte. Dazu gehörte das Chatten. Diese Online-Kommunikation wurde in den frühen 1970er-Jahren in den USA erfunden. Ab August 1988 betrieb der finnische Informatiker Jarkko Oikarinen den Internet Relay Chat. In den Neunzigern trafen sich Jung und Alt in virtuellen Chatrooms.

Der englische Chat entspricht unserem Plaudern und Schwatzen; in der Technik bezeichnet er die Kommunikation in einer Gruppe oder von zwei Partnern über vernetzte Computer. Der Textaustausch erfolgt schnell und wird sofort angezeigt; das Chatten nähert sich dadurch einer Gesprächsrunde oder einem Dialog an. Das unterscheidet es von der Newsgroup, der Mailbox und dem gegenseitigen Versenden von E-Mails.

Lust zum Chatten betitelte der SPIEGEL am 20. Juli 1998 einen Artikel über die deutschen Parteien und das Internet. Es stand eine Bundestagswahl an, die einige Politiker auf Netz-Ideen brachte. Die CDU startete die Website www.bundeskanzler.de, ihr Koalitionspartner besaß seit 1996 www.liberale.de. Die SPD installierte im selben Jahr www.spd.de. Über den Parteien stand die Seite www.wahlkampf98.de. Sie organisierte auch Chats; hier ist einer mit dem FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle.

1998 galt Chatten als das Nonplusultra der Computerwelt. Erfunden wurde es zu Beginn der Online-Ära. 1971 entwickelte der Physiker Murray Turoff für die amerikanische Regierung das Rechnernetz EMISARI; es besaß eine Chat-Funktion für fünfzehn Teilnehmer. Sie wurde noch mit Fernschreibern realisiert. 1973 installierte die Universität des Bundesstaats Illinois ein Chat-System für Monitore. Talkomatic gehörte zum Netzwerk PLATO; maximal dreißig User konnten sich dabei über sechs Kanäle austauschen.

Am 21. Februar 1980 startete die US-Medienfirma CompuServe den ersten kommerziellen Plauderdienst. Der CB Simulator entlieh den Namen vom damals populären CB-Funk; er bot vierzig Kanäle zu verschiedenen Themen an. Vor 30 Jahren, im August 1988, schaltete der junge finnische Informatiker Jarkko Oikarinen den Internet Relay Chat ein. Der IRC ermöglichte ein Schwatzen rund um den Globus. Für technische Details möchten wir auf die leicht verständliche Einführung von 1996 verweisen.

In den Neunzigern wurde das Chatten zur bekanntesten Anwendung des Internets. Es weckte die Neugier von Journalisten und Autoren, etwa Fredrika Gers, der wir die ersten deutschen Mailbox-Romane verdanken. Im SPIEGEL schilderte sie 1997 die Chancen und Risiken des Online-Flirts: „Im Cyberspace laufen wirklich die nettesten Männer frei herum. Nette Frauen auch, aber leider immer noch viel zu wenig.“ Zur Jahrtausendwende berichtete allerdings die ZEIT, dass die Mehrzahl der fünf Millionen deutschen Chatter weiblich wären.

Aber zurück zur Politik. Aus dem Wahljahr 1998 fanden wir ein Dokument der deutschen Internetgeschichte, ein Video des ersten Kanzler-Chats. Am 18. September 1998 stellte sich Helmut Kohl der Neugier des Netzpublikums, und die Nachrichtenagentur AP schaute zu. Ihr Film liegt nur im Rohschnitt vor, deutlich wird, dass Fragen in der Bonner CDU-Zentrale einliefen und einige auch beantwortet wurden. Die gezeigten Chatterinnen, zwei Studentinnen der Universität Bonn, wirken aber eher unzufrieden.

Die Quittung kam am 27. September 1998: die Regierung von CDU/CSU und FDP wurde abgewählt. Der neue Kanzler Gerhard Schröder leitete eine Koalition aus SPD und Grünen. Ein Jahr später traute sich ein hoher SPD-Politiker in den Live-Chat – Franz Müntefering. Einige Statements überlieferte der SPIEGEL, zum Beispiel: „Ich habe im Büro keinen PC. Und zu Hause erklärt mir meine Frau die Raffinessen des Computers.“ Münteferings Unkenntnis der Flatrate ist verständlich, denn die gab es in den 1990er-Jahren noch nicht so oft.

Franz Müntefering

Dafür wurde Chatten von Soziologen, Psychologen und Linguisten erforscht. Vor seinen Gefahren warnte die BBC, und es ging auch in die Literatur ein: 2005 schrieb der Ire Enda Walsh das Drama Chatroom. Die Freilichtbühne Schloß Neuhaus, die unweit des HNF liegt, zeigte das Stück im März 2018 als Gastspiel der Freilichtbühne Bellenberg; unser Eingangsbild zeigt eine Szene. Inzwischen wurde Chatten am PC durch WhatsApp auf dem Smartphone abgelöst, aber an die wilden Neunziger denken wir gerne zurück.

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