Das Mädchen vom Kindertransport

Geschrieben am 15.09.2023 von

Im Juli 1939 erreichten die fünfjährige Vera Buchthal und ihre Schwester London. Sie gehörten zu rund 10.000 jüdischen Kindern, die von Deutschland und Österreich nach England ausreisen konnten. Hier wurde sie zu Stephanie Shirley und einer erfolgreichen Unternehmerin der Software-Branche. Sie erhielt auch einen Adelstitel. Am morgigen Samstag feiert Dame Stephanie Shirley ihren neunzigsten Geburtstag.

Geboren wurde sie als Vera Stephanie Buchthal am 16. September 1933 in Dortmund; ihr Vater Arnold Buchthal war Richter. Er befand sich aber schon seit Juli 1933 im Ruhestand, denn er war Jude. Am Jahresende emigrierte er mit der Familie – Vera hatte noch eine Schwester Renate – nach Österreich, der Heimat seiner Frau. Nach dem Anschluss des Landes an Deutschland beschlossen die Eltern, die Mädchen nach England zu schicken.

Das geschah durch einen Kindertransport. Diese Aktionen waren eine englische Initiative, um Kinder und Jugendliche aus jüdischen Familien vor der Verfolgung in Deutschland und im deutschen Machtbereich zu retten. Von November 1938 bis zum September 1939 erreichten etwa 10.000 junge Menschen das Vereinigte Königreich; das ist ein Film der britischen Wochenschau dazu. Vera und Renate Buchthal trafen im Juli 1939 nach Zugfahrt aus Wien und Überquerung des Ärmelkanals auf einem Londoner Bahnhof ein. Dort holten sie ihre Pflegeeltern ab.

Das Ehepaar Guy und Ruby Smith wohnte in einem Dorf nördlich von Birmingham. Vera Buchthal erlernte schnell die englische Sprache und besuchte eine Klosterschule. Im Krieg sah sie auch ihre Eltern wieder, die beide nach England entkamen. Als Teenager zog sie in einen Ort nahe der Grenze zu Wales, wo es eine höhere Schule gab. Als man ihr Talent für Zahlen erkannte, nahm sie am Mathematik-Unterricht eines Gymnasiums für Jungen teil. Anfang 1951 wurde Vera Buchthal britische Bürgerin und nannte sich Stephanie Brook.

Im selben Jahr trat sie einen Job als Hilfskraft im Forschungsinstitut der Post im Norden von London an. Ein Kollege war der Ingenieur Tommy Flowers; er schuf im Zweiten Weltkrieg den Elektronenrechner Colossus zum Knacken deutscher Geheimcodes, was er keinem erzählen durfte. Stephanie Brook wirkte unter anderem am Bau des elektronischen Zufallsgenerators ERNIE mit, der die Gewinnzahlen der englischen Sparkassenlotterie ermittelte. Neben der Arbeit studierte sie Mathematik und erwarb den Bachelor. 1957 war sie Gründungsmitglied der British Computer Society.

Der elektronische Zufallsgenerator ERNIE (Foto Science Museum Group CC BY-NC-SA 4.0)

Im November 1959 wurde sie durch Heirat zu Stephanie Shirley; ihren Mann Derek lernte sie im Forschungsinstitut kennen. Sie arbeitete danach für die Firma Computers Development Limited in Coventry. Hier entstand der Transistorrechner ICT 1301. Stephanie Shirley testete seine Software, zudem interessierte sie sich für Marketing. Als ihr in einer Diskussion ein höherrangiger Kollege brutal das Wort abschnitt, stand es für sie fest: Sie würde kündigen und ein Softwarehaus starten.

In ihren Memoiren beschrieb sie die Lage im Jahr 1962: „Ich hatte 6 Pfund Kapital, einen Esstisch, einen Telefonanschluss, den wir uns mit einem Nachbar teilten, den dieser zum Glück kaum benutzte, und noch eine weitere verrückte Idee: Nur Frauen sollten für mich arbeiten, alle auf freiberuflicher Basis und von zu Haus aus.“ Der Name ihrer Firma lautete Freelance Programmers, der Sitz war das Haus der Shirleys in Chesham nordwestlich von London. Stephanie Shirley unterschrieb ihre Briefe meist mit „Steve Shirley“; sie hatte festgestellt, dass ein weiblicher Vorname manche Interessenten abschreckte.

Am 31. Januar 1964 berichtete die Tageszeitung Guardian über Mrs. Steve Shirley und ihre Suche nach freiberuflichen Programmiererinnen. Der Artikel brachte Stephanie Shirley eine Anzahl Mitarbeiterinnen ein sowie auch Kundenanfragen. Im Prinzip waren die Aussichten ihres Unternehmens gar nicht schlecht, da es nur wenig Konkurrenz gab. Am 13. Mai 1964 opferte sie fünfzehn Pfund und ließ es als Freelance Programmers Limited in das Handelsregister eintragen.

In der Folgezeit wuchs die Firma langsam aber stetig. 1964 betrug der Umsatz 7.000 Pfund, 1970 waren es 50.000 Pfund. Danach durchlebte sie eine Krise, nicht zuletzt wegen der Wirtschaftsflaute. 1976 lag der Umsatz aber bei 739.000 Pfund und der Gewinn vor Steuern bei 45.000 Pfund. Für das Unternehmen, das inzwischen F International hieß, arbeiteten 340 Programmiererinnen sowie einige männliche Programmierer. Denn seit 1975 galt im Vereinigten Königreich ein Gesetz zur Gleichberechtigung, der Sex Discrimination Act.

Dame Stephanie Shirley im Jahr 2013 (Foto Lynn Hart CC BY 4.0)

1977 setzte F International mehr als eine Million Pfund um, die Zehn-Millionen-Grenze fiel 1987. Schon 1981 beteiligte Stephanie Shirley die Belegschaft an der Firma. Als die FI Group – 1988 gab es einen weiteren Namenswechsel – im Jahr 1996 an die Börse ging, hielten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die Hälfte des Aktienkapitals; rund siebzig von ihnen wurden Millionäre. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Stephanie Shirley aus dem Unternehmen zurückgezogen. Von 1993 bis 2003 wurde es von Hilary Cropper geleitet. Sie steigerte den Jahresumsatz auf 450 Millionen Pfund.

Ab 2001 hieß die FI Group Xansa. 2007 erfolgte die Übernahme durch den französischen Software-Riesen Steria; so endete eines der erstaunlichsten englischen IT-Unternehmen. Seine Gründerin wurde 1980 in den Order of the British Empire aufgenommen. Im Jahr 2000 rückte sie in den Rang eines Commanders auf und war von nun an Dame Stephanie Shirley. Ihr Geld und ihre Energie steckte sie in philanthropische Projekte; das ist ihre Homepage. Ihre Autobiographie kann man nach Anmelden im Internet Archive lesen; hier und hier geht es zu kürzeren „Oral Histories“.

Die Memoiren liegen seit drei Jahren auf Deutsch vor; wir empfehlen sie allen, die sich für das Thema Frauen in der Computerbranche interessieren. Das Buch ist gelegentlich eine erschütternde Lektüre, denn die Autorin erzählt auch von ihrem 1963 geborenen und 1998 verstorbenen Sohn Giles. Er litt an schwerem Autismus und an Epilepsie. Der Junge kam dann in ein Heim, doch der Umgang mit ihm und das Wissen von seinem Leiden bedeuteten eine ständige Strapaze. 1976 brach Stephanie Shirley zusammen; danach lag sie einen Monat im Krankenhaus.

Wie Fotos und Videos bezeugen, fand sie wohl im Alter ihr Lebensglück wieder. Am morgigen 16. September wird Dame Stephanie Shirley neunzig Jahre alt; wir wünschen ihr schon jetzt Gesundheit und alles Gute. Unser Eingangsbild zeigt das Kindertransport-Mahnmal am Berliner Bahnhof Friedrichstraße; es stammt vom israelischen Architekten und Bildhauer Frank Meisler. Er wuchs in Danzig auf und gelangte ebenfalls auf jenem Weg nach England.

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