Der Computer im Wasserturm

Geschrieben am 25.01.2022 von

Wer einen Roman über Computer lesen will, greift in der Regel zu Werken aus der Science-Fiction. 1970 erschien ein Jugendbuch mit dem Titel „Abakus an mini-Max“; es behandelte ebenfalls einen Elektronenrechner. Der Verfasser Boy Lornsen war durch „Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt“ bekannt geworden, mittlerweile ein Klassiker der Kinderliteratur. Seine Computergeschichte geriet leider in Vergessenheit. 

Fangen wir mit dem Autor an. Boy Lornsen wurde am 7. August 1922 in Keitum auf der Insel Sylt geboren; sein Vater war Kapitän. Nach Gymnasium und Kriegsdienst erlernte er das Handwerk des Zimmermanns. Anschließend studierte er Kunst und wurde Bildhauer. In den 1960er-Jahren befand sich sein Atelier in Brunsbüttel.

1967 kam das von Lornsen verfasste Kinderbuch Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt heraus. Die utopische Geschichte mit einem erfinderischen Jungen  und seinem Roboter-Freund wurde ein Bestseller. Das Buch führte 1972 zu einer vier Folgen zählenden Fernsehserie, die Puppentricks mit Realaufnahmen mischte; später entstand ein Kinofilm. In Boy Lornsens zweitem Roman, dem 1968 erschienenen „Jakobus Nimmersatt“, ging es um Naturschutz. Ein japanisches Studio erstellte danach eine Animation.

Sein nächstes Werk trug 1970 den Titel „Abakus an mini-Max“. Abakus – im Buch ABAKUS geschrieben – ist ein Computer und steht im obersten Stockwerk eines Wasserturms. Hier dachte Lornsen vielleicht an den alten 1969 gesprengten Wasserspeicher seines Wohnorts. Den zweiten noch vorhandenen Wasserturm von Brunsbüttel zeigt unser Eingangsbild. Der Rechner gehört dem Mathematikprofessor und Computerkonstrukteur Benedikt C. Frieder. Er hat Abakus aus Amerika mitgebracht, wo er zuvor jahrzehntelang arbeitete.

Boy Lornsen im Jahr 1975 (Foto Friedrich Magnussen CC BY-SA 3.0 DE seitlich beschnitten)

Zur Technik und zum Aufbau der Maschine bietet der Roman verstreute Hinweise. Abakus ist demnach ein kleinerer Mainframe-Computer mit Transistoren; die Module sind U-förmig um einen Bedientisch angeordnet. Die Peripherie umfasst eine Tastatur, zwei Magnetband-Laufwerke und einen Plattenspeicher, dazu einen Lochstreifenleser, einen Stanzer und einen Drucker. Zur Hardware gehört außerdem „eine Art Armaturenbrett mit zahlreichen Tasten, Knöpfen, Schaltern und farbigen Signallampen“.

Der menschliche Held des Romans heißt Max Klawitter; wegen seiner Körpergröße wird er mini-Max mit kleinem „m“ genannt. Max ist dreizehn und Gymnasiast; sein Vater betreibt eine Tierhandlung. Dann gibt es noch Maxens Freundin Christel Birkmann oder „Christel aus der Villa“. Ihre Familie bewohnt ein Haus mit Erkern und Türmchen; der Reichtum stammt aus einer Gurken- und Delikatessen-Fabrik. „Abakus an mini-Max“ spielt in der Gegenwart; Boy Lornsen erwähnt die Mondlandung und deutet den Strukturwandel in der Region an.

Seine Geschichte läuft aber in einem märchenhaften Brunsbüttel und einer heilen Welt ab. Die Lehrer und Lehrerinnen sind autoritär und tragen Spitznamen wie Pinsel oder Beowulf. Die Studienrätin für Deutsch heißt nicht Frau, sondern Fräulein Labadan, die Gastlehrerin aus Schottland Miß Petticoat. Mit viel Liebe und sicher aus eigener Erfahrung schildert der Autor die Küste des Wattenmeers. Wer das Buch genau studiert, kann anschließend die Plattfische der Nordsee mit bloßen Händen und Füßen erlegen.

Das Cover des Buches ist den Bildern von Abakus nachempfunden, die Boy Lornsen auf seiner Schreibmaschine tippte.

Viel passiert nicht in „Abakus an mini-Max“. Die meisten Aktionen gehen vom Computer aus, der eine technische Störung hat. Die Outputs sind in Verse unterteilt und reimen sich. Ein Beispiel: „Die Sonne sengt! Die Penne kocht. Warum sind wir noch eingelocht?“ Darüber hinaus fertigt er Illustrationen an, die das Buch Seite um Seite füllen. Einen Eindruck vom Stil vermittelt das Cover des Romans. Professor Frieder versucht vergeblich, Abakus das Dichten und Zeichnen auszutreiben, schließlich hört der Rechner von selbst damit auf.

Max Klawitter fasst am Ende den Entschluss, ein Fachmann für Computer zu werden und einen ganz kleinen zu erfinden, den man in die Schultasche packen kann. Das ist ihm offenbar geglückt, wie man an Milliarden von Smartphones sieht. 1970 wurde „Abakus an mini-Max“ in der ZEIT sehr positiv besprochen; das Blatt nannte es ein „Buch voller Leben, dem man wünscht, daß es ein Klassiker wird“. Das schaffte es leider nicht, doch man kann es auf Amazon bestellen. Danach verfasste Boy Lornsen noch zahlreiche Kinderbücher und auch Gedichte; er starb am 26. Juli 1995 in seinem Geburtsort Keitum.

In der deutschen Literatur nimmt sein Abakus-Roman eine besondere Position ein. Er war der erste außerhalb der Science-Fiction zum Thema. 1957 erschien „Der Mensch und die Lochkarte“ des Schweizers Ernst Vollenweider, der sich aber der Hollerith-Technik widmete. Der durch Hörspiele bekannte Heinz von Cramer schuf eine Erzählung über eine denkende Maschine, die den User in den Tod treibt; sie steht im Sammelband Leben wir im Paradies. Dirk Lornsen danken wir herzlich für die Erlaubnis, eine Computer-Illustration seines Vaters benutzen zu können. Sie folgt unten, und vielleicht erkennen Sie das Fluggerät.

(Copyright Dirk Lornsen, Keitum/Sylt)

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