Die Schnellsten an der Schreibmaschine
Geschrieben am 30.08.2022 von HNF
Es war nie eine olympische Disziplin, aber ein Vorläufer des E-Sport: das Schnellschreiben auf der Schreibmaschine. Den ersten Wettkampf bestritten 1888 zwei junge Männer in der amerikanischen Stadt Cincinnati; mit der Zeit traten immer mehr Frauen an. In den 1950er- und 1960er-Jahren gewannen die Stuttgarterinnen Lore Alt und Sigrid Lude jeweils vier Titel bei Weltmeisterschaften.
1888 feierte Cincinnati den 100. Geburtstag. Die im US-Bundesstaat Ohio liegende Stadt eröffnete am 4. Juli eine große Ausstellung; drei Wochen später fand eine ganz besondere Konkurrenz statt. Der Stenograph Frank McGurrin aus Salt Lake City hatte im Januar 1888 allen Schreibmaschinennutzern eine Schnelligkeitsprüfung vorgeschlagen. Louis Traub aus Cincinnati akzeptierte die Herausforderung. McGurrin reiste an, und am 25. Juli 1888 tippten die zwei jungen Männer um die Wette.
Frank McGurrin saß an einer Remington, Louis Traub bediente eine Caligraph. Bei beiden Maschinen war die Schrift auf der Walze nicht zu sehen. Das Duell startete um 10.10 Uhr und endete, mit einer Viertelstunde Pause, um 12.20 Uhr; geschrieben wurde nach Diktat und nach einer Vorlage. Traub brachte 6.938 Worte zu Papier, McGurrin dagegen 8.709. Den Sieg verdankte er vor allem seiner Fähigkeit, mit zehn Fingern zu tippen. Mit einem Preis von 500 Dollar fuhr er nach Salt Lalt City zurück; er war der erste Gewinner eines Schnellschreibens.
In der Folgezeit fanden in den USA weitere Wettbewerbe dieser Art statt. 1905 organisierte eine Zeitschrift für Bürotechnik die erste Weltmeisterschaft; hier ist die Ausschreibung. Zu den Champions gehörten Rose Fritz und Margaret Owen sowie bei den Herren Emil Trefzger und Otis Blaisdell. In den 1920er- und 1930er-Jahren besaß der Hersteller Underwood einen „Rennstall“, in dem Schreiber und Schreiberinnen für die Meisterschaften trainierten. Ein Superstar war Albert Tangora mit 141 Worten pro Minute; hier sieht man ihn 1937 in Chicago. Um Pokale gekämpft wurde aber auch in Australien, Italien und den Niederlanden.
Ab 1955 richtete die Internationale Föderation für Stenografie und Maschinenschreiben, die Intersteno, alle zwei Jahre die Konkurrenz aus. Erste Weltmeisterin wurde am 31. Juli 1955 die 29-jährige Lore Alt; auf dem Intersteno-Kongress in Monte Carlo schaffte die Stuttgarterin 544 Anschläge pro Minute. Sie triumphierte ebenso auf den nächsten Intersteno-Tagungen in Mailand und Wien. Dort gewann sie sogar doppelt, im einfachen Maschinenschreiben wie im Perfektionsschreiben, bei dem Fehler viele Punkte kosteten. In Wien entstand auch ein Film; die wenigen Männer im Saal blieben erfolglos.
Hier ist Lore Alt im Jahre 2020 zu sehen. Der Retro-Mediathek verdanken wir eine Reportage vom Intersteno-Kongress 1961 in Wiesbaden. Zu Beginn sind der deutsche Präsident Fritz Häger und danach die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Schnelltippens im Bild. Bei Minute 2:02 tritt kurz Lore Alt auf; sie nahm aber nicht am Wettkampf teil. Weltmeisterin in Wiesbaden wurde Sigrid Wissel. Von ihr wissen wir außerdem, dass sie 1956 in Hannover mit 519 Anschlägen pro Minute die Bundesmeisterschaft errang.
1963 trafen sich die Interstenografen in Prag, 1965 in Paris. Die Wochenschau war dabei; ab Minute 1:52 spricht die deutsche Weltmeisterin Sigrid Lude. Mit 683 Anschlägen stellte sie einen neuen Rekord auf; sie benutzte eine IBM-Selectric mit Kugelkopf. Zweiter wurde ihr Landsmann Dieter Gürschner an einer Olympia. Sigrid Lude errang von 1963 bis 1969 viermal den Welttitel, ab 1967 in der neu geschaffenen Kategorie für elektrische Schreibmaschinen. In diesem Film wirbt sie 1964 für das IBM-Textverarbeitungssystem MB 72.
Anderthalb Jahrzehnte lang war das schnelle Schreiben eine westdeutsche Domäne. 1977 und 1979 holte Gisela Ebersbach aus der DDR eine Weltmeisterschaft, 1995 gelang es dem Berliner Walter Willkomm. Deutsche Intersteno-Kongresse gab es 1981 in Mannheim, 1989 in Dresden, 2001 in Hannover und 2017 in Berlin. Die für 2021 geplante Intersteno-Tagung wurde um ein Jahr verschoben; sie fand vom 6. bis 11. August in Maastricht statt. Lesenswert ist die offizielle Geschichte der Föderation von 1887 bis 2012.
Nun bleibt noch Mademoiselle Populaire. Der Film von 2012 schildert den Weg der jungen Rose Pamphyle zur Königin des Maschinenschreibens. Das ist der Trailer, hier geht es zu einer Kurzfassung. Der Streifen spielt in den späten 1950er-Jahren, verwendete jedoch eine Hermes Ambassador von 1962 oder eine Triumph Gabriele von 1960. Unser Eingangsbild zeigt eine echte Schreibmaschine der Fünfziger aus dem HNF-Depot, eine Triumph Matura Standard.
Danke für die tollen Infos und Links! Die alten S/W Filme sind sehenswert, auch und besonders heute gutes Material für den Schulunterricht, um den schnellen Weltwandel aufzuzeigen. Ach ja, der Charme und die Schönheit der alten mechanischen Geräte ist einfach unvergleichlich. Die digitale Welt, wo man manchmal erst per Hinweisschild oder gar erst per Bedienungsanleitung erfährt, um was für ein Gerät es sich eigentlich handelt, ist so beunruhigend lieblos wie die heutige Beton-Architektur. Keiner hat mehr Zeit und Musse für hübsche Schnörkeleien, für stolzes Präsentieren handwerklicher Kunst. Nur bei den Uhren, den teuren, da ist es noch wie eh und je.
Meine Frau und ich sahen gestern zufällig den Spielfilm „Mademoiselle Populaire“, wo Maschineschreiben spannend wie ein Krimi inszeniert wurde. Sieht man die alten S/W Filme der Weltmeisterschaften, kommt einem der Spielfilm gar nicht so sehr theatralisch vor, man ahnt auch dort eine ungeheure Spannung und entdeckt da und dort besondere Persönlichkeiten.