E-Mail für Dich

Geschrieben am 11.10.2016 von

Zu den neuen Bereichen, die das HNF Ende Oktober eröffnet, zählt auch die „Welt im Netz“ zur Geschichte des Internets. Dieses schlug sich in Form der E-Mail-Romane in der Literatur nieder. Solche Werke bestehen ganz oder teilweise aus Mails, Chats oder Blogs. Netz-Romane werden seit den 1990er-Jahren von englischen, amerikanischen, deutschen und österreichischen Schriftsteller/innen verfasst.

Eigentlich wollte sich Walter Child nur bei seinem Buchclub beschweren. Der hatte ihm ein falsches Buch zugeschickt, „Kidnapped“ von Robert Louis Stevenson statt „Kim“ von Rudyard Kipling. Childs Brief setzt aber eine Kette amtlicher Fehlgriffe in Gang, an deren Ende er zum Tode verurteilt wird. Wegen Kidnapping und Ermordung des Opfers, welches Robert Louis Stevenson heißt.

Das ist der Inhalt der utopischen Kurzgeschichte Computer streiten nicht. Sie stammt von Gordon Dickson und erschien 1965 in der amerikanischen Zeitschrift „Analog“. Die Story besteht aus Briefen und Mitteilungen eines Großrechners, die mit Lochkarten codiert werden. Obwohl es sich nicht um elektronische Post handelt – 1965 gab es noch kein Internet – können wir „Computer streiten nicht“ als Vorläufer des E-Mail-Romans ansehen. Damit möchten wir literarische Texte bezeichnen, die wenigstens teilweise aus Mails, Chats, Kurznachrichten oder Weblogs bestehen.

 

Den ersten E-Mail-Roman schrieb 1994 der Amerikaner Carl Steadman. Zwei Einsamkeiten ist die Korrespondenz zwischen einem Mann, Lane Coutell, und einer Frau, Dana Silverman. Die beiden kommen sich näher, verlieben sich, dann endet die Beziehung. Das letzte Wort spricht der MAILER-DAEMON: „Your message was not delivered to the following recipients: dsilverman: User unknown” Ein trübes Ende, doch führte Steadman das wichtigste Thema in die E-Mail-Belletristik ein: die Liebe.

Die überragende Bedeutung dieses Gefühls ist auch in den drei Romanen „Chat“, „Connect“ und „Crash“ ablesbar, die die US-Autorin Nan McCarthy zwischen 1995 und 1997 publizierte. Seit 1999 liegt ihre Trilogie auf Deutsch vor. Im selben Jahr erschien der E-Mail-Roman „Keusch wie Eis“ von Sylvia Brownrigg. Das amerikanische Original „The Metaphysical Touch“ kam 1998 heraus. Anscheinend nicht übersetzt wurde „E-Mail: A Love Story“ von Stephanie Fletcher aus dem Jahr 1996.

Die Regel, dass sich Frauen an Mail-Romanzen versuchen, gilt ebenso für den heimischen Buchmarkt. 1997 schrieb die Düsseldorfer IT-Spezialistin Carola Heine „Liebe auf den ersten Click“. Zum Inhalt bitte hier clicken. Auf Teneriffa brachte die Hannoveranerin Sabine Rieger „Ch@tlove: Ein Internet-Roman“ zu Papier, der 1999 herauskam. Das war auch das Erscheinungsjahr von „Screen Name: SusiQu“ über eine transatlantische Netzliebe. Zur Verfasserin Conny Böhm wissen wir leider nichts.

Gabriele Farke im Jahr 2007

Gabriele Farke im Jahr 2007

Umso mehr können wir über die nächste Autorin sagen – Gabriele Farke. 1955 in Bielefeld geboren, wohnte sie lange in Lippstadt, nur 30 Kilometer westlich von Paderborn und dem HNF. In den 1990ern entdeckte sie das Netz und seine Chatrooms. Das Resultat war 1998 der Roman „Sehnsucht Internet – Sucht und Sehnsucht, Liebe und Leid“. Er basiert auf wahren Begebenheiten und schildert die Online-Beziehung zwischen Gaby und Bernd. Die beiden treffen sich schließlich ganz real in einem Paderborner Bistro. Gestreichelt wird aber nur Bernds braver Hund Braymour.

1999 erschien die Fortsetzung „Hexenkuss.de – Liebe, Lüge, Lust und Frust im Internet“. Damals kämpfte Gabriele Farke schon intensiv gegen ihre eigene Chat-Besessenheit. Im Juni 1999 gründete sie mit anderen Betroffenen den Verein HSO (Hilfe zur Selbsthilfe für Onlinesüchtige). Seit 2008 arbeitet sie in Buxtehude als Beraterin für Medienabhängige und deren Angehörige. Ihr Schicksal sollte aber niemanden von der Lektüre der „Sehnsucht Internet“ abhalten. Das Buch gibt es preiswert auf Amazon und ist eine echte Zeitreise in die frühe Internetkultur.

Während die Damen sich in die Online-Liebe stürzten, befassten sich die Herren mit der Frage, wie man im Beruf reich und glücklich wird. Der Engländer Matt Beaumont schrieb dazu im Jahr 2000 den Roman „e“; die deutsche Version hieß 2001 „E-Mail an alle“. Das Buch erzählt vom haarsträubenden Leben und Treiben in einer Werbeagentur. Bemerkenswert ist, dass es wirklich nur aus Mails besteht und nichts anderem. 2009 setzte Beaumont „e“ mit „e Quadrat“ fort, das weitere Techniken der elektronischen Kommunikation einführte.

Glattauer-Buch

 

2002 tippte der Österreicher Jan Kossdorff sein Mailodram „Spam!“ in den Computer; Thema ist das Platzen der Dotcom-Blase nach der Jahrtausendwende. Gedruckt wurde die 300 E-Mails lange Story 2010. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kossdorffs Landsmann Daniel Glattauer mit zwei E-Mail-Romanen bereits sämtliche Bestsellerlisten erklommen. Verraten sei, dass sich die Protagonisten Emmi Rothner und Leo Leike in „Gut gegen Nordwind“ (2006) noch nicht kriegen, doch im Folgeband „Alle sieben Wellen“ (2009) in Liebe vereint werden.

Die bundesdeutsche Antwort auf Emmi und Leo waren Anna und Roger, die Helden von „Verm@ilt“ und „E-D@te“. Diese beiden Titel legte die Hallenser Autorin Anja Nititzki 2014 und 2015 vor. Wirklich verstehen kann die Liebe aber nur ein Mann. Deshalb schließen wir mit dem jüngst erschienenen E-Mail-Roman „Das Schelling-Projekt“ von Peter Sloterdijk. Wer sloty@durlacherfreiheit.de nicht nur virtuell, sondern auch live erleben möchte, der möge am 24. Oktober ins HNF kommen. Dort spricht der Dichter und Denker um 19 Uhr über Die vernetzte Welt als kulturelle Herausforderung.

Unsere Übersicht über die Geschichte der Online-Belletristik ist natürlich nicht vollständig. Hinweisen möchten wir noch auf die Dissertation von Sabrina Kusche von 2012. Wir bedanken uns außerdem bei Gabriele Farke für die biografischen Informationen und das Foto. Unser Eingangsbild stammt aus der Bühnenfassung von „Gut gegen Nordwind“, die das Wiener Theater Akzent zeigte.

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Ein Kommentar auf “E-Mail für Dich”

  1. Simone Guski sagt:

    Auch Facebook hat schon Eingang in die Belletristik gefunden. Einen Roman über einen jungen Mann und ein junge Frau, die einander sieben Tage lang über dieses Medium die Geschichte ihres Lebens erzählen, „Die Zunahme der Zeichen“, brachte im vergangenen Jahr der junge Autor Senthuran Varatharajah, heraus. Er selbst ist wie seine Protagonisten ein Mensch mit Erfahrung im Überstehen von Flucht und Vertreibung. Auch hier entstand eine – freilich sehr reflektierte – Liebesgeschichte.

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