Helmut Gröttrup: Raketen und Halbleiter

Geschrieben am 14.09.2018 von

Im Krieg wirkte Helmut Gröttrup am Bau der Rakete A4 mit. Danach arbeitete er für die sowjetische Besatzungsmacht, ab 1946 zwangsweise in Russland. 1953 kehrte er nach Deutschland zurück. Von 1954 bis zu seinem Tod 1981 widmete er sich der Informatik im Bankwesen. Vor fünfzig Jahren meldete er eine Vorform der Chipkarte zum Patent an.

Vor einem Jahr schrieben wir im Blog über den ersten erfolgreichen Start der deutschen A4-Rakete; sie hob im Oktober 1942 in Peenemünde ab. Ihr Entwickler Wernher von Braun arbeitete nach dem Krieg für die US-Armee und die Raumfahrtbehörde NASA. Die unter seiner Aufsicht entstandene Riesenrakete Saturn V brachte 1969 die ersten Menschen zum Mond.

Zu von Brauns Mitarbeitern in Peenemünde zählte der am 12. Februar 1916 in Köln geborene Helmut Gröttrup. Er studierte von 1935 bis 1939 Physik an der Technischen Hochschule Berlin und stieß nach Kriegsbeginn zu den Raketenforschern. Im A4-Projekt stieg er zum stellvertretenden Direktor der Abteilung für elektrische Geräte auf. Im Frühjahr 1945 wurde Peenemünde geräumt, im April 1945 floh Gröttrup zu den amerikanischen Truppen, die im Westen Deutschlands vorrückten.

Im September treffen wir ihn wieder im Osten, in Bleichenrode südlich des Harz. In jenem Ort hatten die sowjetischen Besatzungstruppen das Institut für Raketenbau und Entwicklung RABE eingerichtet. Es knüpfte an die A4-Produktion an, die 1944 und 1945 im benachbarten Nordhausen stattfand. Dort saß das unterirdische Mittelwerk, in dem sich Tausende von KZ-Häftlingen zu Tode arbeiteten. Helmut Gröttrup bewährte sich zunächst im RABE-Institut. 1946 wurde dieses in die Bleichenroder Zentralwerke umgewandelt und Gröttrup erhielt den Posten des Generaldirektors.

Den „Identifikand“ in Schlüsselform beschrieb Helmut Gröttrup schon 1967 in einer Patentanmeldung. In der Spitze sitzt die integrierte Schaltung.

Seine Direktorenkarriere endete am Morgen des 22. Oktobers 1946. Aus der sowjetischen Besatzungszone wurden 5.000 Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure mit ihren Familien nach Russland deportiert. Hier mussten sie Forschungs- und Industrieprojekten zuarbeiten. Gröttrup und andere Raketenspezialisten waren zunächst nahe Moskau und später in Westrussland tätig. Die Deutschen lebten relativ gut, aber isoliert und sie erfuhren nicht, was aus ihren Arbeitsergebnissen wurde. Raketen waren ein Staatsgeheimnis.

Im November 1953 durften die Gröttrups die Sowjetunion verlassen. Aus der DDR siedelten sie in die Bundesrepublik über. Helmut Gröttrup fing 1954 in der Elektrofirma Lorenz in Pforzheim neu an. 1958 fusionierte sie mit der Standard Elektrik AG zur Standard Elektrik Lorenz AG. Die SEL baute auch Computer, und Gröttrup soll am Transistorrechner ER 56 mitgewirkt haben. Ab Januar 1959 leitete er aber die Pforzheimer Produktograph-Werke, die Anlagen zur Betriebsdatenerfassung herstellten. 1960 übernahm Siemens die Firma.

Bis 1965 blieb Helmut Gröttrup als Abteilungsleiter, dann machte er sich selbständig. Mit dem Hamburger Ingenieur Jürgen Dethloff gründete er die Datentechnische Gesellschaft DATEGE mit Sitz in München. Bis 1968 reichte Gröttrup eine Anzahl Patentanmeldungen ein, die sich auf Identifizierungsschalter bezogen. Ein solcher Schalter ist eine Art Schlüssel („Identifikand“), der in ein Aufnahmegerät („Identifikator“) gesteckt wird; er bewirkt eine Folgeaktion wie die Ausgabe von Waren oder den Fluss von Benzin in einer Tankstelle.

Vor fünfzig Jahren meldeten Helmut Gröttrup und Jürgen Dethloff ihr System in Österreich zum Patent an. Das Patent wurde 1971 erteilt.

Gewährt wurde ihm kein einziges Patent. Die interessanteste Anmeldung war ohne Zweifel Nr. 1.574.074 vom 6. Februar 1967. Der im Text beschriebene Identifikand enthielt eine „als monolithischer Halbleiterblock aufgebaute Kontrollschaltung“, die mit dem Identifikator kommunizierte. Es handelte sich um eine integrierte Schaltung, die Transistoren, Dioden und andere Bauelemente auf kleinstem Raum vereint. Helmut Gröttrup dachte aber nicht an einen Mikrochip; die Miniaturisierung sollte das System fälschungssicher machen.

Am 13. September 1968 wurden Gröttrups Erfindungen gebündelt beim Wiener Patentamt eingereicht. Anmelder war die Intelectron Patentverwaltung GmbH aus München. Sicher ist, dass hinter der GmbH Helmut Gröttrup und sein Geschäftspartner Jürgen Dethloff standen. Die österreichischen Prüfer schauten sich die 21 Textseiten und 48 Zeichnungen genau an; am 25. Januar 1971 erteilten sie ein Patent Nr. 287.366 für einen „Identifizierungsschalter“. Im Dokument wurde niemand als Erfinder genannt.

Das geschah erst am 10. September 1969 in einer gekürzten Anmeldung, die Gröttrup und Dethloff gemeinsam im Deutschen Patentamt vorlegten. Danach trennten sich die beiden; im Juni 1970 wurde ihre Firma DATEGE vom traditionsreichen Druckhaus Giesecke & Devrient geschluckt. Seine Spezialität waren Banknoten und Wertpapiere. Die alte DATEGE erstand als Gesellschaft für Automation und Organisation neu – mit Gröttrup als Geschäftsführer. 1975 hatte die neue GAO schon 150 Mitarbeiter.

Die Patentzeichnung von 1968 zeigt den Chip (206) und fünf Fotodioden (212).

Die Tochter GAO verwandelte die Mutter Giesecke & Devrient in ein High-Tech-Unternehmen. Helmut Gröttrup schuf Geldausgabe- und Geldwechselautomaten, maschinenlesbare Banknoten und fälschungssichere Laserbeschriftungen. Anfang 1977 lieferte der SPIEGEL einen Einblick in die Welt der monetären Informatik. Der Artikel erwähnte auch die von der GAO entwickelte Banknoten-Bearbeitungsmaschine ISS 300. Vom „International Security System“ wurden 2.100 Stück in viele Länder verkauft.

Ende 1980 schied Helmut Gröttrup aus der GAO aus; am 5. Juli 1981 starb er in München. Am 1. April 1982 erteilte das dortige Patentamt das im September 1969 angemeldete Patent für den Identifizierungsschalter. Inzwischen feiert es die Patentschrift Nr. 1.945.777 in seiner Postergalerie. Es stimmt allerdings nicht, dass es darin, wie es im Poster heißt, um eine „Plastikkarte mit integriertem Schaltkreis“ geht. Die uns allen vertraute Chipkarte aus Kunststoff wurde erst 1975 durch den Franzosen Roland Moreno erfunden.

Jürgen Dethloff errang ebenfalls Erfinderruhm, sein Chipkarten-Patent von 1977 ist hier nachlesbar. Helmut Gröttrup – und nur er allein – kam aber auf die Vorform der Chipkarte in der bereits geschilderten Schlüsselform. Das zeigt seine erfolglose Patentanmeldung vom Februar 1967. In den 1970er-Jahren erlebte er noch mit, wie die Plastikkarte mit integriertem Prozessor ihren Siegeszug begann. Auch dazu gibt es ein Poster vom Patentamt, und dieses können wir zur Lektüre empfehlen.

Das Eingangsbild oben (Foto Ursula Gröttrup) zeigt unseren Erfinder 1958 bei einem Vortrag zur Raumfahrt.

Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

2 Kommentare auf “Helmut Gröttrup: Raketen und Halbleiter”

  1. Interessanter Artikel und eine ebenso interessante Karriere. Ich habe den Blogbeitrag auf https://www.computerisierung.com/?p=984 aufgenommen und „rebloggt“

  2. Norbert Ryska sagt:

    Der Zuse-Medaillen-Preisträger Lorenz Hanewinkel schreibt zu dem Identifizierungsschalter : „Die Fig. 1 zeigt den „Schlüssel“ und Fig. 2 die Anordnung der Schloßelemente. Die Reihe der möglichen Bohrungen dient der Übergabe eines Codes, der z.B. mit Photodioden ausgelesen werden kann. Im Endbereich befindet sich ein induktiver Sensor im Schloß, der die richtige Einstecktiefe anzeigt. Ähnliche Photosensoren waren in der Kugelkopf-Schreibmaschine als Codeempfänger von der Tastatur und als Rückmelder der Kopfeinstellung eingebaut. Damals ein ganz großer Fortschritt. Der runde Schlüsselbereich enthält die Mikroschaltung mit ihren Kontakten, die elektrisch oder optisch sein können. In der A-schrift von Dethloff sind noch viele andere Varianten gezeigt, die aber offensichtlich im Einspruchsverfahren eliminiert wurden wegen des englischen Patents, das im Kopf der C3 Schrift genannt ist. Es gab einen langen Weg bis zur heutigen Chipkarte. Einen großen Streit gab es um die Frage, wie man den Chip sicher kontaktieren konnte, als die Post die Telefon-Bezahlkarten herausbrachte. Ich war damals für Orga als Anwalt tätig. Der Streitwert betrug 30 Mio DM. Es saßen über 10 Anwälte am Verhandlungstisch als das sog. „Wackelpatent“ gekippt wurde. Nach Orga hat sich der frühere Nixdorf-Mitarbeiter Karl-Heinz Wendisch sehr intensiv um die Weiterentwicklung der Chipkarte u.a. auch mit kontaktloser induktiver Signalübertragung und Stromversorgung befasst.

Schreibe einen Kommentar zu Norbert Ryska Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir stellen diese Frage, um Menschen von Robotern zu unterscheiden.