Kleine Geschichte des Streaming

Geschrieben am 03.04.2020 von

Früher saßen wir am Radio oder vor dem Fernseher; ab den 1970er-Jahren entwickelte sich das Streaming. 1993 wurden Interviews online übertragen, 1994 waren die Rolling Stones über das Internet zu hören. Am 3. April 1995 führte die Firma Progressive Networks – später hieß sie RealNetworks – den RealAudio Player ein. 1997 folgte die Software RealVideo.       

Manche Technik ist älter als man denkt. In den 1960er-Jahren finden wir das Wort „stream“ in Schriften der IBM zum Computer IBM 360; gemeint ist natürlich der Datenfluss. 1974 strömte zum ersten Mal digitalisierte Sprache durchs Internet, das damals noch ARPANET hieß. Möglich machte es das Network Voice Protocol NVP des israelisch-amerikanischen Informatikers Danny Cohen. 1979 erschien auch ein Internet Stream Protocol; es kam allerdings nie zum praktischen Einsatz.

In den 1980er-Jahren diente das NVP vor allem für Konferenzen. 1992 richteten Van Jacobson, Steve Deering und Stephen Casner in den USA den Mbone ein. Der Multicast Backbone erweiterte das Internet auf rundfunkähnliche Kommunikation. Am 31. März 1993 startete der Technikautor und Netzaktivist Carl Malamud eine Interview-Serie mit dem Titel Geek of the Week. Am 27. Oktober 1993 war WWW-Erfinder Tim Berners-Lee der Geek der Woche. Die Übertragung könnte das älteste elektronische Dokument seiner Karriere sein.

Schon am 24. Juni des Jahres erklang die erste Musik im Netz. Die Rockband Severe Tire Damage – schwerer Reifenschaden – spielte im Forschungszentrum Xerox PARC in Palo Alto. Hier sind die Erinnerungen der Musiker, die sonst in Firmen des Silicon Valley arbeiteten. Das Konzert brachte der Band dann einen Auftritt als Vorgruppe der Rolling Stones ein. Sie gastierten am 18. November 1994 in Dallas, fünf Songs strömten durchs Mbone-Netz. Der Severe Tire Damage wurde direkt vor den Stones aus Kalifornien übertragen.

1994 war auch das Geburtsjahr der Firma Progressive Networks. Ihr Gründer Robert Glaser wurde 1962 in New York geboren und wuchs im benachbarten Yonkers auf. Als Teenager gestaltete er in der High School ein Radiopogramm; es wurde allerdings nur in der Schule ausgestrahlt. Glaser studierte dann Informatik und Volkswirtschaft. Von 1983 bis 1993 arbeitete er bei Microsoft in Seattle; er verließ das Unternehmen als Millionär. Als er den ersten grafik-orientierten Internetbrowser Mosaic sah, wusste er, war er tun wollte.

Robert „Rob“ Glaser, Gründer und Leiter der RealNetworks. (Foto RealNetworks Inc.)

Im Februar 1994 startete Robert Glaser die Progressive Networks, am 3. April 1995 kam ihr erstes Produkt auf den Markt. Der RealAudio Player war eine Software zum Empfang von Sprache und Musik im Streamingsystem RealAudio. Sie war kostenlos; wer den zugehörigen Server installieren wollte, bekam ihn für 1.500 Dollar. Die Tonqualität ließ einige Wünsche offen, denn Progressive Networks musste Rücksicht auf die Modem-Technik nehmen. Der Übertragungsstandard betrug meist nur 14,4 Kilobit pro Sekunde.

In vier Monaten luden 230.000 Interessenten das Programm herunter. Im September 1995 wurde ein Großereignis gestreamt, das Baseballspiel der Seattle Mariners gegen die New York Yankees. Die Sendung stürzte kurz vor Schluss ab, Robert Glaser war dennoch mit der Resonanz zufrieden. 1996 verlangte er für den neuesten Player eine Gebühr von 29,95 Dollar. Im Februar 1997 erschien das System RealVideo. Im September wurden aus den Progressive Networks die RealNetworks, im November erbrachte der Börsengang 35 Millionen Dollar.

Robert Glaser erhielt bald Konkurrenz, vor allem durch den Media Player von Microsoft. Zur Jahrtausendwende besaßen aber 85 Prozent der Online-Medien ein Real-Format. Seitdem hat sich die Streaming-Welt sehr verändert, man denke nur an YouTube und Netflix. Unsere Firma gibt es noch immer. 2019 hatte sie 441 Angestellte und setzte 172 Millionen Dollar um; davon stammten 106 Millionen von der Tochter Napster. Unterm Strich machte das Unternehmen allerdings Verlust.

Nach einer Abwesenheit von mehreren Jahren kehrte Robert Glaser 2012 in den Chefsessel von RealNetworks zurück. Seit 2018 bietet er auch ein System zur Gesichtserkennung an. Seine Verdienste um die Streamingtechnik kann ihm jedoch niemand nehmen. Unser Eingangsbild nahm SounderBruce auf CC BY-SA 2.0; wir haben es seitlich beschnitten.

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3 Kommentare auf “Kleine Geschichte des Streaming”

  1. Jochen Schönfeldt sagt:

    Real, schön und gut. Ein Hinweis auf den QuickTime-Streaming-Server sollte in der Geschichte des Streaming aber keinesfalls fehlen: https://www.golem.de/9907/3812.html
    Im Gegensatz zu Real war damit schon eine ganz akzeptable Qualität möglich; auch war er als OpenSource verfügbar.
    Ein wenig Folklore, wie stolz und glücklich man war, wenn man Ende des letzten Jahrtausends mit ISDN Kanalbündelung ein paar Minuten lang briefmarkengroßes matschiges Video halbwegs ruckelfrei gestreamt bekam, hätte auch nicht geschadet. Kann sich heutzutage niemand mehr vorstellen.
    Siehe den klassischen Aufkleber am Lieferanteneingang von RealNetworks: https://img01.lachschon.de/images/Pressestelle-1049465957.jpg
    mfg JS

    1. Ulrich Klotz sagt:

      Genau. Gegen Apples Quicktime war der Realplayer lange Zeit nur eine Lachnummer. Ich kann mich an
      begeisternde Vorab-Präsentationen von Quicktime im Jahr 1988 erinnern, da flimmerten schon ganz passabel kleine farbige Videos über den Schirm.
      Und Steve Jobs stellte im selben Jahr höchstpersönlich in Darmstadt auf einer NeXT-Station etwas ähnliches vor. Das Altherren-Publikum aus gestandenen Informatikern feierte ihn dafür mit Standing Ovations. Zu jener Zeit waren Apple/NeXT um „Lichtjahre“ weiter als der ganze DOSen und Windows-Kram. Also besser die Innovatoren feiern und nicht die Imitatoren.

    2. Ulrich Klotz sagt:

      Siehe meine Antwort.

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