Lorenz gegen Colossus

Geschrieben am 15.11.2022 von

2007 wurde im englischen Bletchley Park ein Nachbau des Elektronenrechners Colossus fertig; im Zweiten Weltkrieg halfen solche Systeme, geheime Nachrichten der Wehrmacht zu entschlüsseln. Am 15. und 16. November 2007 organisierten das Computermuseum von Bletchley Park und das HNF ein „Cipher Event“, dabei knackte der nachgebaute Colossus einen in Paderborn mit einer Lorenz-Maschine chiffrierten Funkspruch.

Bletchley liegt siebzig Kilometer nordwestlich von London; im Ortsteil Bletchley Park saß im Zweiten Weltkrieg die Government Code and Cipher School, wörtlich übersetzt die Code- und Chiffrenschule der Regierung. Ihre Belegschaft entschlüsselte zahlreiche Funksprüche des deutschen Militärs. Auf dem Gelände befinden sich inzwischen eine Ausstellung über die Geschichte jener Aktivitäten sowie das Nationale Computer-Museum TNMOC.

Zu den Schätzen des Museums zählt der funktionsfähige Nachbau eines Colossus. Diesen Namen trugen zehn Elektronenrechner, die in den Jahren 1944 und 1945 beim Dechiffrieren einer ganz speziellen Art von Funksprüchen halfen. Es handelte sich um Mitteilungen von Befehlshabern der Wehrmacht, die per Fernschreiber erstellt und durch Lorenz-Maschinen verschlüsselt wurden. Die C. Lorenz AG saß in Berlin und gehörte zum amerikanischen ITT-Konzern. Was sie nicht daran hinderte, 1940 den Lorenz-Schlüsselzusatz SZ 40 einzuführen. Zwei Jahre später kam das Modell SZ 42.

Das wohl bekannteste Foto eines Colossus mit zwei Bletchley-Park-Programmiererinnen

Die Chiffriermaschinen lieferten eine Folge von Nullen und Einsen, die mit den Signalen aus dem Fernschreiber logisch verknüpft wurden. Eine Übereinstimmung der Signalfolgen an einer Stelle führte zu einer Null, in allen anderen Fälle ergab sich eine Eins. Die so erzeugten Null-Eins-Folgen wurden per Funk verschickt und woanders wieder empfangen – natürlich auch in England. Beim deutschen Empfänger stand ein Lorenz-Schlüsselzusatz mit der gleichen Einstellung. Er arbeitete mit demselben logischen Prinzip; seine Nullen und Einsen verwandelten den geheimen Datenstrom in eine sinnvolle Mitteilung.

Am 30. August 1941 machte ein Wehrmachtsfunker in Athen einen folgenreichen Fehler. Er sendete zweimal einen verschlüsselten Text, ohne die Einstellung des Schlüsselzusatzes zu ändern. Beim zweiten Mal strich er zudem vier Buchstaben des Klartextes. Das ermöglichte den Bletchley-Park-Kryptologen John Tiltman und Bill Tutte ein Verständnis der deutschen Chiffriertechnik. Es entstanden Nachbauten der Lorenz-Maschinen, und man konnte ihre Einstellung ermitteln. Eine Dechiffrierung dauerte aber mehrere Wochen. Etwas schneller ging es ab dem Juni 1943 mit einem Gerät namens Heath Robinson.

Der Colossus-Nachbau im Jahr 2006 – rechts steht Tony Sale. (Foto MaltaGC CC BY-SA 3.0)

Es verglich mit Fotozellen zwei Lochstreifen und half bei statistischen Untersuchungen von Lorenz-chiffrierten Funksprüchen. Die Colossus-Rechner erbrachten den Durchbruch. Sie lösten ab Januar 1944 den Heath Robinson ab; ihr Konstrukteur war der Ingenieur Thomas „Tommy“ Flowers vom Forschungsinstitut der englischen Post. Der erste Colossus besaß 1.600 Elektronenröhren, die Nachfolger 2.400 Stück. Der Computer simulierte einen Lorenz-Schlüsselzusatz und analysierte immer wieder einen chiffrierten Funkspruch. Eine deutsche Nachricht ließ sich nun nach wenigen Stunden lesen.

Nach Kriegsende wurden die Krypto-Rechner verschrottet und die zugehörigen Dokumente fast komplett entsorgt. Alle Beteiligten unterlagen außerdem einem Schweigegebot. Es lockerte sich in den 1970er-Jahren, Technikhistoriker trugen Einzelheiten zur Colossus-Familie zusammen. 1993 begann der Ingenieur Tony Sale in Bletchley Park mit der Rekonstruktion des Rechners; im Herbst 2007 war sie abgeschlossen. Um die Einweihung des neuen Colossus zu feiern, dachten sich Tony Sale und Norbert Ryska, damals einer der Geschäftsführer des HNF, eine besondere Veranstaltung aus.

Lorenz-Schlüsselzusatz SZ 42 und Lorenz-Fernschreiber in der Ausstellung in Bletchley Park

Und damit kommen wir zum Cipher Event, das am 15. und am 16. November 2007 stattfand. Die Schauplätze waren das HNF und das TNMOC und die Stars ein Schlüsselzusatz SZ 42 in Paderborn und der Colossus in Bletchley. Die Lorenz-Maschine lieh nach der Überwindung diverser bürokratischer Hindernisse der Bletchley Park Trust aus; er betreibt dort die krypto-historische Ausstellung. Den Transport übernahmen Soldaten der britischen Armee. Das Hochfahren des SZ 42 gelang erst dem aus England angereisten Physiker Craig Sawyers, der die Maschine einst restaurierte.

Die Veranstaltung bestand in der Lösung einer kniffligen Decodier-Aufgabe. An den beiden Event-Tagen gingen im HNF auf drei Frequenzen drei verschlüsselte Fernschreib-Meldungen in den Äther; im Original waren es Werbetexte des HNF. Zur Sicherheit wurden sie mehrmals übermittelt. Den Startknopf drückte der 85 Jahre alte Rudolf Staritz, der im Krieg als Funker für den deutschen Geheimdienst gearbeitet hatte. Als kleine Hilfe teilten die Veranstalter die Anordnung der Chiffrierräder in der SZ 42 mit und bei zwei Texten die Startposition einiger Räder. Wer ein passendes Funkgerät besaß, hörte solche Töne.

Schlüsselzusatz-Entschlüssler Joachim Schüth  (Foto Jan Braun/HNF)

Die Lauscher in Bletchley Park empfingen am 15. November ab 16.30 Uhr Greenwich-Zeit eine verwertbare Nachricht. Am Folgetag setzten sie ihren Colossus-Nachbau darauf an, nach drei Stunden und 35 Minuten lag die Lösung vor. Schneller war ein Funkamateur in Bonn, der Physiker und T-Systems-Angestellte Joachim Schüth. Er nutzte eine Übertragung des Geheimtextes um 12 Uhr und entschlüsselte sie in weniger als einer Minute mit seinem Laptop. Um 13.14 Uhr mailte er den Klartext an Tony Sale und wenig später ans HNF. Schüth verwendete ein selbst verfasstes Dechiffrierprogramm in der Sprache Ada.

Seine Tat machte Schlagzeilen im In- und Ausland. „Wettkampf der Code-Knacker“ schrieb der SPIEGEL und „Colossus loses code-cracking race“ die BBC. Auch die amerikanische Computerworld brachte einen Artikel, und das ist Joachim Schüths eigener Bericht. Das „Cipher Event“ von 2007 blieb nicht das letzte. Am 7. April 2017 fand ein zweites statt. Dabei standen ein deutsches Chiffriergerät und die englische Entschlüsselungsmaschine Bombe im Mittelpunkt. Das Team in England fand nach fünf Stunden den Klartext: „Paderborn grüßt die Enigma-Codebreaker in Bletchley Park“

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2 Kommentare auf “Lorenz gegen Colossus”

  1. Am Vorabend des Cipher Events kam es zu einer höchst merkwürdigen Zusammenkunft. Gegen 20:00 Uhr rief die Information des HNF bei mir an, ein Prof. v. Klitzing möchte gerne einen Blick in das Haus werfen… Als ich diesen Namen hörte, dachte ich: Das ist der GAU. Ein Nobelpreisträger ohne Vorwarnung und nach Feierabend.

    Ich ging ins Foyer und begrüßte v. Klitzing und erklärte ihm, dass es gerade der denkbar ungünstigste Zeitpunkt für eine Führung sei, weil das Team dabei sei, eine sehr komplizierte Chiffriermaschine ans Laufen zu bringen für ein cipher event am nächsten Tag. „Macht nichts“ sagte v. Klitzing. „Dann schau ich Ihnen ein bißchen dabei zu.“

    Also machten wir uns auf den Weg zum Testplatz der SG42. Kaum dort angekommen, begannen v. Klitzing und Saywers ein lautstarkes Jubelgeschrei , liefen aufeinander zu und umarmten sich heftig.

    Meine Kollegen und ich waren perplex. Was hatte das denn zu bedeuten ? Dann lüfteten Beide das Rätsel. Craig Saywers hatte doch tatsächlich vor 20 Jahren in seinem Labor in Cambridge den Versuchsaufbau des Nobelpreisträger-Experiments v. Klitzings eingerichtet.

  2. Wer einmal genauer wissen will, wie Colossus entwickelt wurde, muß unbedingt diese Darstellung von Tommy Flowers lesen. Es war Trial and Error! Beispiel:
    „The practical speed at which Colossus could be operated was tested by loading it with a maximumlength tape and increasing the speed until something happened. At about 9700 characters per second, the tape broke in one and then several places. The various sections of tape did their best to obey Newton’s first law and travel in a straight line in the direction they happened to be going with an initial velocity of nearly 60 miles per hour, and thus found all sorts of curious places in which to come to rest. Clearly, the maximum safe speed at which paper tape could be driven could not be much greater than 5000 characters per second. A much higher speed had been aimed at to reduce the numbers of machines eventually to be built, and the operating force to practical quantities, thus prompting the thought that the effective speed could be increased by parallel processing. By using five processors in parallel, all operating on the same program but with different input data from the tape, an effective speed of Colossus
    of 25,000 characters per second was obtained and was enough.“ aus Thomas H. Flowers: The Design of Colossus, Annals of the History of Computing, Volume 5, Number 3, July 1983

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