Mikroprozessor TMX1795 – der vergessene Erste
Geschrieben am 08.06.2021 von HNF
Vor einer Woche behandelten wir den Mikroprozessor TMS9900 und den um ihn herum gebauten Computer TI-99/4A. Beide stammten vom Hersteller Texas Instruments. Heute geht es um einen anderen Chip der Firma. Der TMX1795 wurde vor fünfzig Jahren in der Fachpresse vorgestellt; manche Experten sehen ihn als den allerersten Mikroprozessor. Leider kam es nie zur Serienproduktion.
Im Juni 1970 gab die im texanischen San Antonio ansässige Computer Terminal Corporation CTC ein neues Produkt bekannt – wir haben es im Blog geschildert. Der Datapoint 2200 ersetzte die verbreiteten elektromechanischen Kartenlocher, mit denen das Eingabematerial für Computer erstellt wurde. Schon im Dezember 1969 kontaktierte CTC den Chiphersteller Intel; es folgte ein Auftrag. Intel sollte für den Datapoint 2200 einen Mikroprozessor liefern.
Einen ähnlichen Vertrag schloss die Computer Terminal Corporation mit der Firma Texas Instruments ab. Ihre Chip-Abteilung befand sich in Stafford, einem Vorort der Metropole Houston. Während Intel den Auftrag nur mit halber Kraft verfolgte, startete TI im April 1970 die Entwicklung eines Acht-Bit-Prozessors. Projektleiter war der 1945 im US-Bundesstaat Ohio geborene Gary Boone. Er hatte Elektrotechnik studiert und arbeitete seit Ende 1969 für das texanische Unternehmen. In diesem Interview erzählte er mehr über sein Leben.
Im Frühjahr 1971 lag das Ergebnis von Gary Boones Team vor; am 7. Juni des Jahres stand es in einer Anzeige der Fachzeitschrift Electronics. (Bitte zum fünften Bild auf der Seite scrollen und selbiges anklicken.) Der Text war vermutlich die erste detaillierte Beschreibung eines Mikroprozessors, die in einer Publikation erschien. Der Chip vereinte auf sechs mal sechs Millimetern 3.100 Transistoren. Er arbeitete in Acht-Bit-Logik, enthielt aber auch Register mit sechzehn Bit. Die Taktzeit betrug zehn Mikrosekunden. Zusammen mit einem Zwei-Kilobyte-Speicher kostete das Teil hundert Dollar.
Die Anzeige erwähnte die Computer Terminal Corporation, eine Fertigung oder gar eine Serienproduktion blieb aus. CTC testete den Chip und kaufte ihn nicht; stattdessen baute man den Datapoint 2200 mit gewöhnlichen integrierten Schaltungen. Texas Instruments bot den TMX1795 dann anderen Firmen an, doch zerschlugen sich alle Verhandlungen. Die Weiterentwicklung des Chips wurde eingestellt, und Gary Boone widmete sich neuen Aufgaben, vor allen den Mikrocontrollern. Das waren Prozessoren mit Zusatzfunktionen.
Texas Instruments meldete diverse Patente für den TMX1795 an; aus dem mit der Nummer 3.757.306 stammt die Zeichnung im Eingangsbild. Die Firma verklagte nun jeden, der es wagte, einen vergleichbaren Prozessor auf den Markt zu bringen. 1992 musste sie sich aber der Dell Computer Corporation geschlagen geben. Sie hatte einen Ingenieur ausfindig gemacht, der 1969 einen Computer mit mehreren Chips gebaut hatte. Es zeigte sich, dass er auch mit nur einem Chip rechnete, er enthielt also schon einen echten Mikroprozessor.
Gary Boone verließ Texas Instruments 1972 und wechselte zu einer Firma in Kalifornien; später arbeitete er für Ford. Ab 1982 war er als Patentberater tätig. 1996 nahm er ein Video mit einem Laptop auf, in dem er seinen TMX1795 eingebaut hatte. Wir sehen, dass der Chip tatsächlich funktionierte. Boone starb im Jahr 2013. Nachtragen müssen wir, dass Intel den für die Computer Terminal Corporation vorgesehenen Acht-Bit-Prozessor 1972 als Intel 8008 verkaufte. Er bildete den Startpunkt für eine höchst erfolgreiche Chip-Familie.
In der Technikgeschichte ist es noch umstritten, wem die Krone des ersten Mikroprozessors gebührt. Auch das kalifornische Computer History Museum möchte sich in dieser Frage nicht festlegen. Für den TMX1795 sprach sich 2016 der IT-Blogger Ken Shirriff aus. Der TI-Chip ging niemals in die Serienfertigung, als Prototyp und Einzelstück hätte er aber wohl ein gewisses Anrecht. Mehr dazu werden wir im November sagen, wenn nicht nur die Historiker den 50. Geburtstag eines anderen Chips mit I feiern.
konkreter müsste man sagen, dass die jüngere Technikgeschichte solch eine Fragestellung, „wer der erste war“ als wenig erkenntnisbringend ansieht. Das ist ähnlich wie bei der Erfindung des Computers: hier geht es der Technikgeschichte nicht da drum, wer den ersten Computer erfunden hat. Mit genügend Adjektiven versehen kommen hier für eine ganze Reihe an Computern infrage. Auch reproduziert solch eine Fragestellung ein lineares Geschichtsbild, an dessen Ende ein bestimmtes Produkt steht, beispielsweise der Computer oder ein Mikrochip, und dieses sucht man dann in der Geschichte. Zu der Entwicklungszeit selber allerdings war die Entwicklung viel offener und Erfinder:innen sahen ihr Produkt noch in einer ganz anderen Perspektive. Hinzukommt, dass die TechnikGeschichte heutzutage eher danach fragt, welche gesellschaftliche Relevanz und Vorbereitung eine Erfindung hatte, nicht ob sie die erste war.
Eine hervorragende Anmerkung!
Hinzu kommt, dass von der Warte der Diskursarchäologie und Epistemologie die Frage nach „dem ersten“ als ebenso unbeantwortbar gelten muss, weil es vielfältige Technologien und Episteme sind, die sich über einen langen Weg durch die Geschichte in einem Punkt „kreuzen“, an dem dann ein solches (zudem hoch-komplexes) Objekt wie ein Mikroprozessor entsteht. (Die gesellschaftlichen Faktoren, die dazu führen, hast du genannt.)
Die Frage nach „dem ersten“ erscheint mir in der eschatologischen Dringlichkeit, mit der sie vor allem immer wieder auf dem Technologiesektor gestellt wird, eine ökonomische oder juristische – jedoch keine technologische.
Vielen Dank für den sehr interessanten und informativen Artikel. Leider wird viel zu wenig über die Anfänge der Mikroprozessoren-Entwicklung berichtet. So findet man auch so gut wie keine Informationen über den 8-Bit Mikroprozessor NCF1, den Lorenz Hanewinkel während seiner Zeit bei Nixdorf entwickelte. Er beschreibt ihn in seinem Buch „Computerevolution. Mein Weg mit Konrad Zuse und Heinz Nixdorf“ ab S. 117.
Wäre der NCF1 nicht auch einen HNF-Blog-Beitrag wert?
Guter Hinweis: Zum NCF1 werdeen wir im September einen Beitrag bringen.
Guten Tag,
Mit Interesse habe ich von dem für September geplanten Beitrag über den NCF1 gelesen.
An der Gesamthochschule Paderborn habe ich betreut von Prof. Aldejohann im Februar 1977 meine Ingenieurarbeit abgegeben mit dem Titel: Aufbau eines Mikroprozessorsystems mit dem Mikroprozessor „NCF1“ unter Berücksichtigung eines Antennensimulationsmodells.
Nach meiner Erinnerung hat die Firma Nixdorf einige wenige Mikroprozessoren dem Institut zur Verfügung gestellt.
Ein Exemplar des NCF1 ist für den Aufbau meiner Ingenieurarbeit zum Einsatz gekommen.
Ich würde mich freuen, weitere Informationen über den NCF1 zu erhalten. Auf den HNF-Blogbeitrag im September bin ich sehr gespannt.
Josef Schmidt