Rudolf Staritz (1921-2021)

Geschrieben am 10.12.2021 von

Im Zweiten Weltkrieg war die Abwehr der wichtigste deutsche Geheimdienst. In Stahnsdorf bei Berlin lag ihre Funkzentrale. Dort begann Rudolf Staritz 1941 eine Karriere als Funker, Funker-Ausbilder und Geräte-Konstrukteur. Nach dem Krieg setzte er sein Studium fort. Dann arbeitete er bei der Bundespost und sammelte Agenten-Funkgeräte. Er starb im Juli 2021 mit 99 Jahren.

Das Jahrhundert schaffte er nicht mehr, aber 99 Jahre und siebeneinhalb Monate sind auch ein beachtliches Alter. Und bis ans Ende seiner Tage besaß Rudolf Staritz – er starb am 24. Juli 2021 – eine geistige Frische, die weit Jüngeren abging. Unter den Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs war er wahrscheinlich der letzte, der für den deutschen Geheimdienst gearbeitet und dort die berühmte Chiffriermaschine Enigma bedient hatte.

Geboren wurde Rudolf Staritz am 11. Dezember 1921 im thüringischen Ort Ziegenrück. Als Teenager entdeckte er die drahtlose Kommunikation und gehörte dem Amateurfunkverband DASD an. 1939 begann Staritz eine Ausbildung bei der Reichspost; 1940 studierte er die Elektrotechnik an einer Ingenieurschule in Hildburghausen. Er musste dann einrücken und kam nach Wetzlar zur Nachrichten-Ersatz-Abteilung 15. Im Dezember 1940 wurde er zur Außenstelle Stahnsdorf des Oberkommandos der Wehrmacht versetzt. Im Januar 1941 trat er seinen Dienst an.

Abwehr-Chef Admiral Wilhelm Canaris als Korvettenkapitän.

Die besagte Außenstelle lag in einem Wald südlich von Berlin und trug den Tarnnamen Heeresneubauamt. In Wirklichkeit bildeten die Häuser und Antennen die Funkzentrale des Amts Ausland/Abwehr des OKW, besser bekannt als Abwehr und Hauptnachrichtendienst des Deutschen Reichs. Der Leiter Wilhelm Canaris hatte sein Büro in der Hauptstadt; von Stahnsdorf aus hielt die Abwehr den Kontakt zu Mitarbeitern im Ausland und zu Agenten, die Informationen lieferten. Darüber hinaus wurden die nötigen Funkgeräte entwickelt.

Innerhalb der Abwehr gehörte Rudolf Staritz zur Abteilung I, die sich mit der Spionage im Ausland befasste, und zur Gruppe I/i, dem geheimen Funkmeldedienst. Die Abteilung II widmete sich der Sabotage und allen möglichen Kommandounternehmen. Zu nennen sind hier die Aktionen der Spezialeinheit Brandenburg, offiziell Baulehrbataillon z.b.V. 800. Die Abwehr-Abteilung III war für die Spionageabwehr zuständig. Vom Machtkampf der Abwehr gegen die SS – sie betrieb den Nachrichtendienst SD-Ausland – merkte Staritz wenig.

An seinem Arbeitsplatz bediente der Gefreite Staritz die legendäre Chiffriermaschine Enigma, er praktizierte aber ebenso andere Verschlüsselungsverfahren. In Stahnsdorf wurden rund um die Uhr Nachrichten gesendet und empfangen; insgesamt waren dort etwa fünfzig Soldaten, Offiziere und Zivilangestellte tätig. 1942 zog die Funkzentrale nach Belzig (heute Bad Belzig) zwischen Berlin und Magdeburg um. Staritz beantragte eine Versetzung und erhielt neue Aufgaben als Funker in Woronowiza in der Ukraine.

Enigma-Raum in der Funkzentrale Hamburg-Wohldorf der Abwehr (Foto Bundesarchiv, Bild 146-2005-0152 / CC-BY-SA 3.0 oben beschnitten)

Im Winter 1942/43 arbeitete er im Kaukasus, wo er die Armenische Legion der Wehrmacht funktechnisch unterstützte. Die mehr als 30.000 Mann starke Truppe sollte gegen die Rote Armee kämpfen; nach der Niederlage in Stalingrad zog sie sich schnell zurück und Rudolf Staritz mit ihr. 1944 gehörte er zu einem Meldekopf in den Pripjet-Sümpfen im Grenzgebiet zwischen Weißrussland und der Ukraine. Hier befand sich eine Lücke in der Ostfront, und Staritz schickte Kundschafter ins sowjetische Gebiet. Nach ihrer Rückkehr – sofern sie zurückkamen – funkte er ihre Berichte in die Heimat.

Am 1. Juni 1944 wurde das Amt Ausland/Abwehr aufgelöst; die Abteilung I kam zum Reichssicherheitshauptamt der SS. Abwehr-Chef Canaris verlor schon im Februar 1944 seinen Posten; nach dem missglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 erfolgte die Verhaftung. Canaris wirkte nicht am Anschlag mit, doch seine Opposition gegen das NS-Regime war bekannt; immer mehr Belastungsmaterial kam zusammen, darunter sein Tagebuch. Am 9. April 1945 wurde Wilhelm Canaris im KZ Flossenbürg hingerichtet. Einfache Soldaten wie Rudolf Staritz erfuhren davon nichts.

Anfang 1945 war er Mitglied eines „Jagdverbands“, der sich südlich von Danzig von der vorstoßenden Roten Armee überrollen ließ. Rudolf Staritz kämpfte aber nicht mehr, sondern gelangte mit einem Schiff von Danzig nach Westen. Das Kriegsende erlebte er in Lübeck. In der Nachkriegszeit setzte er das in Hildburghausen begonnene Studium in Hamburg fort. Ab 1954 arbeitete er bei der Bundespost; er befasste sich unter anderem mit Computertechnik, Datenfernübertragung und Satellitenkommunikation.

Rudolf Staritz 1944 in den Pripjet-Sümpfen (Foto Arthur O. Bauer)

Staritz interessierte sich sehr für die Raumfahrt und brachte 1966 eine Einführung in die Raketentechnik heraus. Sein zweites Hobby war das Sammeln von Agentenfunkgeräten und Chiffriermaschinen; dazu zählten natürlich eine Enigma wie das russische Äquivalent, die Fialka. Über diese Themen verfasste er ein Buch, das online vorliegt; er schrieb außerdem Artikel und hielt Vorträge. 2001 sprach er im HNF über Funknetze der Geheimdienste. Seine Hardware-Kollektion verkaufte er später an das Berliner Spionagemuseum.

2007 organisierte das HNF das ersten Cipher Event. Dabei wurde ein codierter Text an das Computermuseum im englischen Bletchley Park gesandt; in diesem Ort befand sich im Krieg ein Entschlüsselungszentrum für den deutschen Funkverkehr. Vor vierzehn Jahren übernahm die Chiffrierung eine Lorenz-Schlüsselmaschine, eine Leihgabe aus Bletchley; Rudolf Staritz schaltete sie ein. Ihre Botschaft wurde von einem Nachbau des Blechtley-Park-Computers Colossus dechiffriert, schneller war jedoch ein Bonner Funkamateur mit einem PC.

Rudolf Staritz starb am 24. Juli 2021 in Bamberg. Seinen Nachlass erforscht der holländische Geheimdienst-Historiker Arthur Bauer, der über Rudi, wie Staritz im Freundeskreis hieß, eine Internetseite anlegte. Er nahm auch immer noch faszinierende Gespräche mit ihm auf. Wir bedanken uns bei ihm für das Foto aus den Pripjet-Sümpfen und für fachliche Auskünfte. Weitere Fotos aus dem Besitz von Rudolf Staritz liegen hier. Die Aufnahme im Eingangsbild oben stammt von Norbert Ryska.

Rudolf Staritz an der Lorenz-Verschlüsselungsmaschine beim „Cipher Event“ am 15.11.2007 (Foto Jan Braun/HNF)

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2 Kommentare auf “Rudolf Staritz (1921-2021)”

  1. Ein gelungener Nachruf. Ich habe Staritz auf einem Event des Spionagemuseumserleben dürfen. Sehr faszinierend, auch seine Arbeiten in der Schrifterkennung und der Digitalisierung von Postsendungen und Belegen.

    1. Rudolf Staritz war ein begnadeter Praktiker und Theoretiker der Nachrichten- und frühen Computertechnik. Ich habe mit ihm über 15 Jahre technische und technikhistorische Themen fast ständig besprochen. Sein phänomenales Gedächtnis, sein Erklä rvermögen und seine ständige Bereitschaft, Neues kennen , verstehen und weiter geben zu wollen,
      verließen ihn bis ins 99. Lebensjahr nicht. Noch ins Bamberger Seniorenheim .nahm er die für ihn wichtigsten Dokumente mit. Was für eine einzigartige „Quelle“ Rudi war. beweisen auch die 37 Stunden Tonbandaufzeichnungen, die A.O. Bauer mit ihm gemacht hat.

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