Seuchen im Computer

Geschrieben am 10.11.2020 von

Schon lange erdulden die Menschen ansteckende Krankheiten, sei es der Schnupfen im Winter oder eine plötzlich auftretende Pandemie. 1760 analysierte der Schweizer Physiker Daniel Bernoulli die Gefahren der Pocken. Später entwickelten Forscher für die Ausbreitung von Seuchen mathematische Modelle. Heute lassen sich Corona, Pest und Cholera im Rechner simulieren, und es gibt dazu sogar Computerspiele.

Im Jahr 1760 sandte Daniel Bernoulli der französischen Akademie der Wissenschaften den „Versuch einer neuen Analyse der  Mortalität der Pocken“. Der Autor war sechzig, Spross einer holländisch-schweizerischen Forscherdynastie und lehrte Physik in Basel. Das Papier wurde in Paris verlesen und 1766 gedruckt. Bernoulli berechnete darin das Ausbreiten der Krankheit und den Nutzen von Impfungen. Mit seinem Aufsatz begann die mathematische Epidemiologie.

Der Königsberger Medizinprofessor Karl Friedrich Burdach stellte statistische Studien zur Cholera-Epidemie an, die 1831 Deutschland heimsuchte. Der englische Tropenmediziner Ronald Ross fasste 1911 die Malaria in Differentialgleichungen. Die schottischen Forscher Anderson McKendrick und William Kermack schufen 1927 das grundlegende SIR-Modell zur Seuchenverbreitung. Die Abkürzung steht für „Susceptible Infected Removed“, das heißt nicht angesteckte, infizierte und genesene oder an der Krankheit verstorbene Personen.

In den 1950er-Jahren zog die Datenverarbeitung in die Medizin ein. 1954 fand in den USA ein landesweiter Feldversuch mit 1,8 Millionen Kindern statt, um ein Medikament gegen die Kinderlähmung zu testen. Die Auswertung geschah mithilfe der IBM-Lochkartentechnik und ergab die Wirksamkeit der Polio-Schutzimpfung. In der englischen Stadt Bristol kam es 1960 zu einem Hepatitis-Ausbruch mit mehr als tausend Fällen. Diese wurden in Randlochkarten abgespeichert, die sich von Hand verarbeiten ließen.

Daniel Bernoulli um 1750

Ein früher Computernutzer war der englische Malaria-Spezialist George Macdonald. In den 1960er-Jahren hatte er Zugang zum Hochleistungsrechner Atlas der Universität London; mit ihm konnte er das Seuchengeschehen untersuchen und zukünftige Ausbrüche simulieren. In jenem Jahrzehnt finden wir auch Ideen zur zweidimensionalen Darstellung von Epidemien; zu nennen ist Macdonalds Landsmann Norman Bailey. Er arbeitete in Oxford mit einem mittelgroßen Transistorcomputer des Typs Elliott 803; hier ist seine Publikation von 1965.

In der Folgezeit erschienen viele Arbeiten zur Mathematik der Infektionen und nach der Jahrtausendwende leistungsfähige Simulationsprogramme. Ein Beispiel ist FluAid 2.0 der Centers for Disease Control and Prevention CDC, des amerikanischen Gegenstücks zum Robert-Koch-Institut. 2004 entwickelten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Strömungsforschung in Göttingen und der dortigen Universität ein Modell zur Ausbreitung von Epidemien, das den globalen Luftverkehr einbezog. Es reproduzierte verblüffend genau die SARS-Pandemie von 2002 und 2003.

2006 legte das Institut für Medizinische Biometrie der Universität Tübingen die Software InfluSim vor; sie war damals die einzige gratis und online verfügbare Seuchen-Simulation. Mittlerweile existieren mehr, etwa die Software, die das Max-Planck-Institut für Informatik 2014 ins Netz stellte. Bitte einen Ort anklicken und rechts oben auf „Start“ gehen. Corona-Simulatoren erstellten die TU Dresden, die Universitäten Hohenheim, Greifswald – bitte links oben die Sprache wählen – und Saarbrücken sowie die Firma Texas Instruments. Und hier geht es zur neuesten Version des Flugrouten-Modells.

Eine Mitarbeiterin der amerikanischen Centers for Disease Contol and Prevention um 1980

In den 2000er-Jahren wurden in den USA die Planspiele Dark Winter und Atlantic Storm organisiert, die eine terroristische Attacke mit Pockenviren behandelten. Beim Atlantiksturm wirkten auch die Politikerin Erika Mann von der SPD und ihr FDP-Kollege Werner Hoyer mit – er verkörperte den deutschen Bundeskanzler. Die letzte große Pandemie-Übung Event 201 fand am 18. Oktober 2019 in New York statt. Einen lesenswerten Artikel über „pandemic war games“ brachte im August die Zeitschrift Nature; es gibt ihn ebenso auf Deutsch.

Damit kommen wir zu epidemiologischen Computerspielen. Ein Bestseller ist Plague Inc, das der junge Engländer James Vaughan 2012 schrieb. Ein Browser-Spiel, bei dem nicht die gesamte Menschheit ausgerottet wird, ist The Great Flu. Es entstand 2009 im Erasmus-Medizinzentrum Rotterdam. Im selben Jahr brachte der englische Wellcome-Trust Sneeze heraus. Mehr didaktisch ausgerichtet sind die Spieleserie MedMyst der texanischen Rice-Universität und Solve the Outbreak der schon erwähnten CDC. An junge Gamer richtet sich Can You Save the World?. Aus einem deutschen Spielestudio stammt die Corona World.

Schließen möchten wir mit einem Veranstaltungshinweis. Am Mittwoch, dem 11. November, ziehen Corona, Pest und Cholera ins HNF ein. Professor Malte Thießen, der Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster, spricht um 19 Uhr über neue Erkenntnisse der Seuchengeschichte. Das HNF ist im November für Besucher geschlossen, der Vortrag wird aber live im Internet gestreamt.

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