Stärker als der Zufall

Geschrieben am 09.11.2021 von

Vor zweihundert Jahren wurde Fjodor Dostojewski geboren. In seinem Roman „Der Spieler“ verarbeitete der russische Schriftsteller eigene Erlebnisse im Casino. Er wusste nicht, dass es einen Weg gab, um beim Roulette zu gewinnen. Dabei wurden mechanische Schwächen des Roulettekessels ausgenutzt. Sie bewirkten, dass manche Zahl häufiger auftrat als es die mathematische Wahrscheinlichkeit erwarten ließ. 

Am 23. Juni 1862 verbrachte Fjodor Dostojewski auf einer Europareise einen halben Tag in Wiesbaden. Er besuchte auch kurz das Spielcasino. Im August 1863 kam er wieder, blieb vier Tage und gewann beim Roulette mehrere Tausend Franken. Beim dritten Aufenthalt im Juli 1865 verlor er sofort sein gesamtes Geld. Nur dank der Hilfe der örtlichen russischen Kirchengemeinde konnte er nach Sankt Petersburg zurückkehren.

Heute zählt Dostojewski zu den Großen der Weltliteratur. Er wurde vor zweihundert Jahren, am 11. November 1821, in Moskau geboren; seine Prosawerke liegen seit langem auf Deutsch vor. Zu ihnen gehört der Roman Der Spieler, der im Oktober 1866 in drei Wochen entstand und noch vor Jahresende in Druck ging. Er ist eine Studie des Roulette und der Psychologie des Roulette-Spielers; im Buch tritt ebenso eine Spielerin auf. Hinter dem Handlungsort Roulettenburg verbirgt sich ein leicht verfremdetes Wiesbaden.

In Kapitel 4 des Romans heißt es: „Im Verlauf der zufälligen Chancen gibt es tatsächlich wenn auch nicht ein System, so doch eine gewisse Ordnung, was natürlich sehr seltsam ist.“ 1880 brach ein englischer Geschäftsmann ins Fürstentum Monaco auf, um jene Ordnung genauer zu erforschen. Joseph Jagger kannte sich mit Textilmaschinen aus; er wusste, dass mechanische Vorrichtungen Fehler aufweisen und der Materialermüdung unterliegen. Und ist nicht auch ein Roulettekessel ein mechanisches Gerät?

Fjodor Dostojewski im Jahr 1863

Mit mehreren Helfern notierte Jagger einen Monat lang die Roulette-Ergebnisse im Casino von Monte Carlo. Am Ende fand er, dass ein Kessel gegen die Wahrscheinlichkeitsrechnung verstieß. Die Zahlen 7, 8, 9, 17, 18, 19, 22, 28 und 29 tauchten etwas öfter auf, als es die Mathematik vorschrieb. Jagger setzte sich an den dazugehörigen Tisch und gewann in drei Tagen 60.000 Pfund; heute entsprächen sie drei Millionen Euro. Das Casino tauschte die Kessel aus, doch der Engländer merkte das und gewann weiter. Nach einer Woche verließ er Monaco als reicher Mann.

Später wurde die Spielbank von Monte Carlo noch einige Male gesprengt; wir wissen nicht, ob die Gewinner nur Glück hatten oder ob sie auf den Spuren von Joseph Jagger wandelten. Das Kesselverhalten untersuchte höchstwahrscheinlich der deutsche Berufsspieler Benno Winkel. Sein dämonischer Blick brachte ihn 1954 auf das Cover des SPIEGEL; der Artikel dazu führt tief in die Roulette-Kultur der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit. Auch Winkels Wiener Kollege Erich Puch soll Kesselfehler ausgenutzt haben.

Ein fleißiger statistischer Spieler war Richard Jarecki. 1931 in Stettin geboren, emigrierte er als Kind mit den Eltern in die USA. Dort und in Heidelberg studierte er Medizin; er machte aber Karriere im Casino. Seine Analysen an Roulette-Tischen führten zu Gewinnen von umgerechnet 1,2 Millionen Dollar. In den 1970er-Jahren wechselte Jarecki in den Gold- und Silberhandel; er starb 2018 in Manila. Seine Frau Carol errang Ruhm als Schiedsrichterin im Schach. So leitete sie 1997 das Turnier zwischen Weltmeister Garri Kasparow und dem IBM-Computer Deep Blue.

Das Wiesbadener Kurhaus, wie es Dostojewski in den 1860er-Jahren kennenlernte.

Der letzte prominente Kesselspezialist dürfte Gonzalo García Pelayo gewesen sein. Er kam 1947 in Madrid zur Welt und wurde zunächst Regisseur. Nach fünf Filmen sattelte er um und arbeitete als Musikproduzent, Radiomoderator und Organisator von Stierkämpfen. In den 1990er-Jahren betätigte er sich zusammen mit seinen Kindern in Spielcasinos. In Spanien und in Las Vegas gewannen sie knapp drei Millionen Dollar; Pelayo schrieb darüber auch ein Buch. 2012 entstand eine Verfilmung, die in deutscher Sprache auf DVD vorliegt.

Wir schließen in Roulettenburg. Hier gründete der 1930 in Berlin geborene Wolfgang Becker 1972 die Wiesbadener Freie Kunstschule. Als junger Mann bereiste er mit Gleichgesinnten die Spielbanken von Südfrankreich und Norditalien. Dreimal darf man raten, wie die Herren ihren Lebensunterhalt verdienten. Leider sind keine Fotos aus jener Zeit erhalten; Wolfgang Becker starb 2008, sodass er nichts mehr von seinen Casino-Abenteuern erzählen kann. Der Blogger lernte ihn aber in den 1980er-Jahren kennen und verdankt ihm die Idee für den heutigen Beitrag.

Fjodor Dostojewskis Roman ist online und wurde mehrmals verfilmt; YouTube bietet eine russische Version von 1972 an. Auch zu Kesselfehlern findet man einiges im Netz, bitte mit „biased roulette“ und „Vorteilsspiel“ googeln. Ein Roulettesystem kennen wir nicht, doch die grundlegende Mathematik steckt in der Theorie des eindimensionalen Random Walk. Sie regelt das Setzen auf einfache Chancen; Roulette-Gesetze sind mit Vorsicht zu genießen. Als Lektüre zum 200. Dostojewski-Geburtstag empfehlen wir die Biografie von Andreas Guski.

Und wer erfahren will, wie einige findige Geister rund 100 Jahre nach Dostojewski versucht haben, dem Glück mithilfe von Computertechnik auf die Sprünge zu helfen, lese diesen Blog-Artikel.

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