Vom Mikrocomputer zum Tabellenkalkulator

Geschrieben am 09.05.2019 von

1975 erschienen Mikrocomputer in größerer Zahl, 1976 kam der erste Apple heraus. 1977 folgten der Apple II und ähnliche Kleinrechner. Doch konnte man sie auch sinnvoll nutzen? Das klärte sich zwei Jahre später. Am 11. Mai 1979 stellten Dan Bricklin und Bob Frankston ihr Programm VisiCalc vor. Es kalkulierte Tabellen und war die erste „Killerapplikation“. 

Am 11. Mai 1979 um neun Uhr früh war es wieder soweit. Scharen von meist männlichen Technikfans strömten in die unterirdische Brooks-Halle von San Francisco. Ihr Ziel war die mittlerweile vierte West Coast Computer Faire. Die Messe zeigte drei Tage lang neue Hard- und Software für private Nutzer. Eine Attraktion war das 8-Bit-Duo Atari 400 und Atari 800 – wir haben es schon im Blog erwähnt. Der Atari-Stand war, wie ein Fachblatt schrieb, „perpetually mobbed“ – zu jeder Tageszeit umlagert.

Hinter den Kulissen wurden in ruhigen Räumen weitere Produkte vorgestellt; Zutritt hatten nur Fachleute und Pressevertreter. In einem Zimmer saß ein junger Mann mit wallendem Bart an einem Apple II und führte ein Anwendungsprogramm vor. Es hieß VisiCalc und war die erste Tabellenkalkulation, die auf einem Mikrocomputer lief. Eine solche Rechnung ist der Nachfolger des alten Kontenblatts; in den USA nennt man sie Spreadsheet. 1979 gab es dazu schon Software für Großcomputer, sie war aber höchstens Experten bekannt.

Der Mann mit Bart hieß Dan Bricklin. Geboren 1951 in Philadelphia, studierte er Informatik und erwarb 1973 den Bachelor am MIT in Boston. Danach arbeitete er für die Firma Digital Equipment  und für einen Hersteller von Registrierkassen.  Ab 1977 studierte er wieder, jetzt Betriebswirtschaft in Harvard. Die Idee für seine Software hatte er im Frühjahr 1978. Bricklin machte sich in seiner spärlichen Freizeit an die Arbeit; sein Freund Bob Frankston half beim Programmieren. Die Urfassung von VisiCalc lief am 8. Oktober 1978 auf einem Apple II.

Am 2. Januar 1979 gründeten Bricklin und Frankston in einem Vorort von Boston die Firma Software Arts. Sie machte das Kalkulationsprogramm marktfähig; den Vertrieb übernahm eine Partnerfirma namens Personal Software. VisiCalc war für den Apple II und seinen Mikroprozessor geschrieben worden; Dan Fylstra, der Chef von Personal Software, führte deshalb das Programm Anfang 1979 zuerst Steve Jobs vor. Nach der Präsentation in San Francisco wurde es im Juni auf einer Konferenz in New York offiziell herausgebracht.

Dan Bricklin in den 1990er-Jahren.

Ab Oktober 1979 wurde VisiCalc an zahlende Kunden geliefert. Es kostete zunächst weniger als hundert Dollar; 1982 betrug der Preis 250 Dollar. Auf jeden Fall war das Programm ein Riesenerfolg. In sechs Jahren wurden 700.000 Einheiten verkauft, insgesamt vermutlich eine Million. Nach der Version für Apple folgten Abwandlungen für Commodore- und Atari-Computer, die den gleichen 6502-Prozessor enthielten. Später erstellte Software Arts auch VisiCalc-Ausgaben für Z80-basierte Systeme und den 1981 erschienenen IBM PC.

Die Marketing-Firma Personal Software nahm 1982 dank VisiCalc 35 Millionen Dollar ein; das war mehr als der damalige Umsatz von Microsoft. Aufgrund des Erfolgs nannte sie sich dann VisiCorp. Ein Jahr später änderte sich alles: VisiCorp zog den Partner vor Gericht, Software Arts antwortete mit einer Gegenklage. 1984 kam es zu einem Vergleich, den aber keines der Unternehmen lange überlebte. Noch im gleichen Jahr wurde VisiCorp vom Konkurrenten Paladine geschluckt; 1985 landete Software Arts in den Armen von Lotus Software.

Diese Firma war eine Gründung des früheren VisiCorp-Entwicklers Mitch Kapor. Ihre Tabellenkalkulation Lotus 1-2-3 hatte 1983 den Markt im Sturm erobert; in kurzer Zeit drückte das Programm alle Mitbewerber beiseite. Das galt neben VisiCalc auch für die Büro-Software Multiplan, die Microsoft seit 1982 anbot. Bill Gates gelang aber ein Comeback mit Microsoft Excel, das 1985 zunächst auf Macintosh-Computern und 1987 mit dem Betriebssystem Windows lief. Microsoft holte bald auf, schließlich wurde 1995 Lotus von IBM übernommen.

VisiCalc bleibt der Ruhm, die erste Kontenrechnung für kleine Systeme gewesen zu sein. Zweitens erzeugte das Programm eine Nachfrage nach Apple-Computern, anders gesagt, es verwandelte ein Spielgerät in ein Arbeitsmittel. VisiCalc führte auch ein neues Wort in die Betriebswirtschaftslehre ein. Wie das Oxford English Dictionary fand, machte die Zeitschrift PCWeek 1987 das Spreadsheet zur allerersten killer application. Und seitdem suchen die Vertriebsmanager die mörderische Anwendung, die eine neue Technik aufleben lässt.

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Ein Kommentar auf “Vom Mikrocomputer zum Tabellenkalkulator”

  1. Ulrich Klotz sagt:

    Sehr schöner Beitrag zu einem wichtigen Meilenstein der Computergeschichte. Man hätte noch ergänzen können, wie kritisch heute Dan Bricklin die aktuellen Entwicklungen im Silicon Valley kommentiert.

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