Zweihundert Jahre Arithmometer
Geschrieben am 17.11.2020 von HNF
Am 18. November 1820 erhielt Charles Xavier Thomas, Chef einer Pariser Versicherung, ein Patent mit Nummer 1.420 für ein Rechengerät. Das von ihm entwickelte Arithmometer beherrschte die vier Grundrechenarten; es arbeitete mit den von Gottfried Wilhelm Leibniz erfundenen Staffelwalzen. Ab den 1850er-Jahren baute Thomas das Arithmometer in Serie. Damit begann die industrielle Fertigung von Rechenmaschinen.
„Ein Patent für fünf Jahre für eine Maschine oder Apparatur namens Arithmometer zum Ersetzen des Gedächtnisses bei allen arithmetischen Operationen“, genau das erhielt Charles Xavier Thomas aus Colmar am 18. November 1820. Das Dokument nannte auch seinen Beruf: Gründer und Leiter der Compagnie du Phenix – das war eine Versicherung in Paris. Mit dem Brevet d’invention Nummer 1.420 begann vor zweihundert Jahren die industrielle Rechentechnik.
Thomas haben wir im Blog bereits kennengelernt. Er wurde 1785 als Sohn eines Arztes in Colmar im Elsass geboren. Ab 1809 diente er in der napoleonischen Armee in Portugal und Spanien; 1814 wechselte er die Fronten und schloss sich den Royalisten an. In England machte sich Thomas mit dem Versicherungswesen vertraut. Zusammen mit einem reichen Schweizer gründete er 1819 die erwähnte Gesellschaft Phenix und wurde ihr erster Direktor. Sein Interesse für Rechentechnik brachte ihn 1820 zur Konstruktion des Arithmometers.
Vermutlich geben die Zeichnungen des Patents ein damals vorhandenes Modell wieder. Wir erkennen einen Kasten mit vier Schiebern, einem Einstellrad und acht Ziffernfenstern. Die Maschine konnte zwei vierstellige Zahlen addieren und eine vier- mit einer fünfstelligen Zahl multiplizieren. Dabei wurde der erste Faktor mit den Schiebern eingegeben und die Ziffern des zweiten nacheinander mit dem Rad eingestellt. Sie gaben die Anzahl der Additionen des ersten Faktors an. Nach dem Additionsvorgang wurde das Summierwerk eine Stelle nach rechts verschoben.
So funktionierten ein Jahrhundert früher die Rechenmaschine von Gottfried Wilhelm Leibniz und spätere Geräte von Philipp Matthäus Hahn und Johann Helfrich Müller. Sie enthielten Staffelwalzen, Zahnräder mit Zähnen wachsender Länge. Ob Charles-Xavier Thomas davon wusste oder von allein auf das Prinzip kam, ist unbekannt. Das Arithmometer besaß jedoch keine Kurbel. Nach dem Einstellen des ersten Faktors und der Ziffer des zweiten zog man ein Band, das die Additionen auslöste. Die Maschine arbeitete also halbautomatisch.
Die Funktionsweise des Ur-Arithmometers zeigt ein Video des Arithmeums, des Bonner Rechenmaschinenmuseums. Wer auf dem Computer Flash-Applets abspielen kann, findet hier eine interaktive Version des Rechners. Wir beschränken uns auf die Multiplikation: Zum Einstellen des ersten Faktors bitte die Schieber anklicken und platzieren. Danach im Einstellrad einen Ziffern-Kreis wählen und das graue Band ganz links aktivieren. Anklicken des rechten Händchens setzt das Ergebniswerk eine Dezimalstelle weiter.
1821 wurde Charles Xavier Thomas zum Ritter der Ehrenlegion ernannt; von nun an hieß er Charles Xavier Thomas de Colmar. Ein Jahr später vollendete der Pariser Uhrmacher Jean-Pierre Devrine ein neues Arithmometer mit drei Eingabe- und sechs Ausgabestellen. Die Ziffern des Multiplikators wurden ebenfalls per Schieber eingestellt. Die Maschine befindet sich im Nationalmuseum für Amerikanische Geschichte der Smithsonian Institution, und ihm verdanken wir auch die beiden Fotos. Es ist das älteste Arithmometer der Welt.
Nach der Erfindungsphase ließ Thomas die Arbeit an seiner Rechenmaschine ruhen. Das nächste Modell, jetzt mit Kurbel, lag 1848 vor. 1850 begann die Serienfertigung; außerdem schickte er spezielle Arithmometer an Könige, Königinnen und andere Prominente wie Papst Pius IX. Das HNF besitzt, siehe Eingangsbild, das Gerät von Ferdinand II. von Portugal. Charles Xavier Thomas de Colmar starb 1870; bis dahin entstanden rund 2.200 Exemplare seiner Maschine, von denen ein Zehntel in Museen und Sammlungen überlebten.
1885 begann der Ingenieur Arthur Burkhardt im sächsischen Glashütte mit dem Bau von Rechnern nach dem Vorbild des Arithmometers. Damit gab er den Startschuss für die deutsche Rechenmaschinenindustrie. Freunde von Thomas-Maschinen können aber ein herausragendes Exemplar im Bonner Arithmeum bewundern. Als Leihgabe der IBM zeigt das Museum das Piano mit dreißigstelligen Resultatwerk. Thomas de Colmar präsentierte es auf der Pariser Weltausstellung von 1855; es ist unten abgebildet.