Addiermaschine aus Amerika

Geschrieben am 17.03.2023 von

Am 19. März 1923 wurde in New York „The Adding Machine“ uraufgeführt; Verfasser des Theaterstücks war der dreißig Jahre alte Elmer Rice. Es zeigt Herrn Null, einen fleißigen Buchhalter, der aber die moderne Welt nicht verkraftet. Null begeht ein Verbrechen und wird zum Tode verurteilt. Am Ende arbeitet er an der großen Rechenmaschine im Himmel.

„Haben Sie schon mal im Theater geschlafen? Ich treibe immer unter der Bank Allotria, besonders in Paris, aber dieses Mal war ich überwach, den ganzen Abend. Ich wollte kein Wort verlieren, und ich habe keins verloren. Das ist eine dicke Sache.“  So begann eine Theaterkritik, die am 1. Januar 1928 in der Vossischen Zeitung stand, einem nicht mehr existierenden Blatt aus Berlin. Der Kritiker nannte sich Peter Panter, ein Pseudonym des Schriftstellers Kurt Tucholsky. Das Stück hieß bei uns „Die Rechenmaschine“, in Paris „La machine à calculer“ und im Original „The Adding Machine“.

Sein Autor wurde am 28. September 1892 als Elmer Reizenstein in New York geboren; später nahm er den Namen Rice an. Die Großeltern kamen aus Deutschland, und der kleine Elmer wuchs zweisprachig auf. Er verließ vorzeitig die High School und absolvierte eine juristische Ausbildung, die er 1912 abschloss. 1914 verfasste er ein Gerichtsdrama „On Trial“. Es wurde ein Riesenerfolg, und Elmer Rice begann eine Karriere als Stückeschreiber. Er konzentrierte sich zunächst auf Melodramen und verdiente gut. Wohl 1922 traf ihn ein kreativer Blitz.

Jung und erfolgreich: Elmer Rice um 1920

In seinem Haus im Bundesstaat Connecticut brachte Rice in 17 Tagen The Adding Machine zu Papier. Die Theatre Guild, eine progressive und nicht-kommerzielle Bühnengesellschaft, akzeptierte das Stück. Sie brachte schon 1922 Karel Čapeks Roboter-Drama R.U.R. heraus. Am 19. März 1923 erlebte die „The Adding Machine“ im New Yorker Garrick-Theater ihre Premiere. Die Hauptrolle übernahm der irische Schauspieler Dudley Digges, eine Nebenfigur verkörperte Edward G. Robinson, der in den 1930er-Jahren zum Hollywood-Star wurde.

Unser Stück beginnt in der Gegenwart, also den frühen Zwanzigern; es hat sieben Szenen. Die erste stellt Frau Null vor, die Gattin des Helden, die zweite den Helden selbst und seine Kollegin Daisy. Die beiden arbeiten in der Buchhaltung eines Kaufhauses, allerdings ohne Rechenmaschinen. Herr Null und Daisy empfinden heimliche Sympathien füreinander. Null hofft nach 25 Jahren im Job auf eine Beförderung, und tatsächlich erscheint sein Chef. Er befördert Herrn Null aber nicht, sondern kündigt ihn – er wird durch eine Addiermaschine ersetzt. Null bringt den Chef um.

Dudley Digges war 1923 der erste „Herr Null“.

Gleich darauf erleben wir eine Party bei den Nulls. Sie endet mit der Verhaftung des Hausherrn. Es folgt Nulls Monolog vor Gericht, er erhält die Todesstrafe. Die nächste Szene bringt ein Zwischenspiel auf einem Friedhof, anschließend wird Herr Null – oder sein Geist – von Herrn Shrdlu abgeholt. „shrdlu“ ist eine Tastenreihe auf amerikanischen Setzmaschinen und eigentlich ein Unsinnswort. Null gelangt ins Paradies und trifft Daisy, die nach seinem Tod Selbstmord beging. Die zwei kommen sich endlich näher, Herr Null möchte aber nicht im Elysium bleiben. Man trennt sich für immer.

In den folgenden 25 Jahren steht Null an der großen himmlischen Addiermaschine. Danach muss er zur Erde zurück, denn er wird wiedergeboren. In seinem neuen Leben winkt ihm die Aussicht, eine „super-hyper-adding machine“ zu bedienen. Sie hat nur eine Taste, und die drückt der User mit der großen Zehe des rechten Fußes. Die Maschine ist, wie es im Textbuch heißt, der Höhepunkt  menschlichen Schaffens und der endgültige Triumph der Evolution. Die französische Fassung enthielt noch eine kurze Szene, die Nulls Mordtat ungeschehen machte, was jedoch wenig Sinn ergibt.

Szene aus der Erstaufführung: Herr Null vor Gericht

„The Adding Machine“ ist ein avantgardistisches und philosophisches Stück; die Kritik zielt aber auf die Gesellschaft und weniger auf die Technik. Die Rechenmaschinen von Elmer Rice waren wohl die ersten in der amerikanischen Literatur. Der Autor setzte seine dramatische Karriere erfolgreich fort, seine Street Scene erhielt 1929 den Pulitzer-Preis. Der Komponist Kurt Weill machte daraus eine Oper. „The Adding Maschine“ wurde 1969 verfilmt und 2007 zu einem Musical verarbeitet.

Elmer Rice erfuhr das nicht mehr, er starb am 8. Mai 1967 auf einer Reise in England. Die deutsche Fassung des Addiermaschinen-Stücks wurde 1946 zuerst in Salzburg gezeigt. Im Februar 1947 erfolgte die Berliner Premiere. 1948 sendete der NWDR „Die Rechenmaschine“ als Hörspiel, 1957 lief sie im österreichischen Fernsehen. Überliefert sind außerdem noch Theateraufführungen in München und in Hamburg. Wer sich im Internet Archive anmeldet, findet hier ein Buch über Elmer Rice und sein Werk und hier seine lesenswerten Memoiren.

Herr Null am himmlischen Addierer. Der Bühnenbildner könnte an die Burroughs-Maschine aus unserem Eingangsbild gedacht haben.

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