Als der Goldrausch kam
Geschrieben am 07.08.2020 von HNF
IPO oder Initial Public Offering heißt der Börsengang in Amerika. Geschichte machte der Börsenstart der Netscape Communications Corporation vor 25 Jahren. Sie bot den Netscape Navigator an, einen Browser für das World Wide Web. Am Abend des 9. August 1995 hatte Netscape einen Wert von 2,9 Milliarden Dollar, und Browser-Schöpfer Marc Andreessen war vielfacher Millionär.
„Sie erfinden. Sie gründen Firmen. Und die Börse machte sie über Nacht zu Millionären. Wer sind sie? Wie leben sie? Und was bedeuten sie für die Zukunft Amerikas?“ Sie – das waren die Golden Geeks, die goldenen Computerfreaks. Manche stiegen zu Instantaires auf, was man mit Sofort-Millionären übersetzen kann. Einer von ihnen saß barfuß und zufrieden auf dem Cover des Magazins TIME vom 19. Februar 1996. Er hieß Marc Andreessen.
Geboren am 9. Juli 1971, wuchs er im Städtchen New Lisbon im US-Bundesstaat Wisconsin auf. Vater und Mutter arbeiteten in einer Saatgut-Firma. Nach dem Ende der High School studierte Marc Andreessen Informatik an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign. Die Doppelstadt liegt 200 Kilometer südlich von Chicago. Die Universität beherbergt das Nationale Zentrum für Supercomputer-Anwendungen NCSA. Hier fand Marc 1992 einen Job und lernte das gerade erfundene World Wide Web kennen.
1992 liefen auf der Welt weniger als hundert Webserver; viele führt diese Liste auf. Es gab auch den grafischen Browser Viola, der aber schwierig zu installieren war. Zusammen mit seinem Freund Eric Bina und einigen Mitstudenten erstellte Marc Andreessen Anfang 1993 ein neues WWW-Programm. Am 23. Januar 1993 gab er NCSA X Mosaic 0.5 frei. Zwei Tage später kam ein Brillant! von WWW-Erfinder Tim Berners-Lee. Mosaic wurde weiter perfektioniert und an unterschiedliche Betriebssysteme angepasst, auch an Windows.
Der Browser ließ sich kostenlos herunterladen und öffnete selbst Computer-Laien das weltweite Web. Wer ihn für einen Server nutzen wollte, musste eine Lizenz erwerben. Marc Andreessen beendete Ende 1993 sein Studium und trat eine Arbeit im kalifornischen Palo Alto an. Im Januar 1994 erhielt er eine Einladung von James Clark, dem Gründer der Firma Silicon Graphics. Clark hatte sich von ihr getrennt und wollte etwas Neues beginnen. Die beiden trafen sich zu einem Gespräch und wurden sich schnell einig.
Andreessen kündigte seine Arbeitsstelle; am 4. April 1994 gründete er mit James Clark die Mosaic Communications Corporation. Ihr Sitz war der Ort Mountain View im Silicon Valley. Zu Andreessen stießen seine früheren Kommilitonen; gemeinsam schrieben sie den NCSA-Browser um. Am 13. Oktober 1994 kam die Beta-Version des Mosaic Netscape 0.9 heraus. Nach einem kurzen Rechtsstreit mit der Universität von Illinois nannte sich die Firma Mosaic ebenfalls Netscape. Am 15. Dezember 1994 erschien der Netscape Navigator 1.0.
Hier sehen wir einen Film dazu, der wohl Anfang 1995 gedreht wurde. Damals verwendete mehr als die Hälfte der Internet-User den Browser. Im Frühjahr hatten ihn sechs Millionen installiert, im Sommer zehn Millionen. Er war für private Nutzer kostenlos, Geld brachte das Geschäft mit Client-Server-Systemen. Im März 1995 beliefen sich die Einnahmen der Nescape Communications Corporation auf sieben Millionen Dollar; Gewinn machte sie keinen. Dennoch wagten Marc Andreessen, James Clark und der als Direktor gewonnene James Barksdale einen Börsengang.
Der große Tag war der 9. August 1995. Der Handel für die Netscape-Aktie startete mit zwei Stunden Verspätung, doch dann ging alles sehr schnell: „Es war wie ein Goldrausch“, schrieb der SPIEGEL. „Kaum waren die Aktien … auf dem Markt, da schoß der Kurs in die Höhe – von 28 auf 75 Dollar. Eine solche Kaufhysterie hatte die New Yorker Wall Street lange nicht mehr erlebt.“ Die Börse schloss bei 58,25 Dollar, was der Firma einen Wert von 2,9 Milliarden Dollar verlieh. Marc Andreessen war durch seine Anteile um 59 Millionen Dollar reicher, James Clark sogar um 566 Millionen.
Der Goldrausch läutete den Dotcom-Boom ein, der bis ins 21. Jahrhunderts anhielt. Er machte außerdem die Amerikaner auf das World Wide Web aufmerksam. Zwar wurde über die Datenautobahn diskutiert, doch meist in Zusammenhang mit Breitband-Leitungen und Multimedia. Das Internet war etwas für Wissenschaftler und Computer-Nerds, und das World Wide Web litt als europäische Erfindung unter dem Not-invented-here-Syndrom, dem amerikanischen Misstrauen gegenüber Ideen aus dem Ausland.
Der Börsengang vor 25 Jahren änderte das schlagartig. Netscape erfüllte die Erwartungen der Investoren; bis 1998 besaß die Firma einen Marktanteil von sechzig Prozent oder darüber. Danach zog der Internet Explorer von Microsoft am Navigator vorbei. Bill Gates hatte schon im Mai 1995 in einem Memorandum die Internet-Flutwelle beschrieben; sein Browser kam eine Woche nach dem Netscape-IPO auf den Markt. Er war zunächst nur Teil eines Software-Pakets, das Windows 95 ergänzte. Später wurde er direkt mit Microsoft-Betriebssystemen geliefert und in neuen Computern vorinstalliert.
Netscape verlor deshalb in den 1990er-Jahren den Browserkrieg. Aber auch der Explorer ist nahezu verschwunden. Marc Andreessen bleibt der Ruhm, beide Browser geschaffen zu haben, denn die Software von Microsoft war ein Abkömmling des alten Mosaic. Aus dem Netscape Navigator ging der Mozilla Firefox hervor. Das „uber-super-wunder whiz kid of cyberspace“, wie das Magazin Newsweek Andreessen einst nannte, arbeitet heute in einer erfolgreichen Firma für Risikokapital.
Das Eingangsbild nahm Gabriel Saldana auf (CC BY 2.0 seitlich beschnitten).