Der Bundestag geht online

Geschrieben am 03.02.2017 von

In den 1990er-Jahren verbreitete sich das World Wide Web über die Erde. Das weckte auch das Interesse deutscher Politiker. 1995 gründete Jörg Tauss, Bundestagsabgeordneter der SPD, einen virtuellen Ortsverein. Auch der SPD-Parteitag konnte damals online verfolgt werden. Im gleichen Jahr startete die Freie Universität Berlin ein Pilotprojekt, bei dem sechs Abgeordnete eine eigene Homepage erhielten.

Eigentlich begann die neue Zeit schon in der alten Bundesrepublik. 1984 startete die CDU/CSU-Fraktion im Bonner Bundestag die digitale Vernetzung. 1988 verfügte sie über vier Zentralcomputer der Marke Wang, an denen 215 Drucker, 410 Terminals und 14 Bürorechner hingen. Damit konnten die Abgeordneten auch E-Mails in die Außenwelt schicken und von dort Nachrichten der dpa empfangen. Darüber hinaus waren sie mit dem fraktionsübergreifende ISDN-System Parlakom verbunden.

Dann passierte lange Zeit nur wenig. Neue Impulse brachten Mitte der 1990er-Jahre das sich immer weiter ausbreitende World Wide Web und die Presse- und Fernsehberichte über Datenautobahnen und Multimedia. Das Internet ließ sich nicht mehr ignorieren. 1995 legten sich das Auswärtige Amt und die Bundesministerien für Bildung und Forschung und für Wirtschaft eine Homepage zu. Online gingen ebenso die Bayerische Staatsregierung und die SPD, letztere am 19. August 1995.

Schon am 16.Juni 1995 rief der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss zur Gründung eines virtuellen Ortsvereins auf. Zitat: „Der OV wird zunächst bundesweit organisiert und kümmert sich (irgendwann vielleicht mit eigenem Antragsrecht zu Bundesparteitagen) vor allem um Fragen der Informationsgesellschaft.“ Im September entstand eine Newsgroup, im Oktober eine richtige Homepage, die bis 2012 Bestand hatte. Vorsitzende des VOV waren Sascha Boerger und Maritta Strasser.

Auf Parteiversammlungen war der Virtuelle Ortsverein nicht antragsberechtigt, offiziell galt er als Arbeitskreis beim Parteivorstand. Er hatte aber einen großen Auftritt auf dem SPD-Bundesparteitag im November 1995 in Mannheim. Im Tagungszentrum, dem Mannheimer Rosengarten, installierte er einen temporären Internetserver. Die dazugehörige Seite machte Reden und Beschlüsse des Parteitags sofort nach ihrer Freigabe öffentlich. Mitglieder des VOV erläuterten außerdem von Mensch zu Mensch die Möglichkeiten und Gefahren der Computernetze.

Zwei Monate vorher, am 6. September 1995, begann noch ein anderer Netzversuch. Das Pilotprojekt Abgeordnete im Internet war eine Idee des Fachbereichs Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Es bescherte sechs Bundestagsabgeordneten eine Homepage: Heinz Jürgen Kronberg (CDU), Gerhard Friedrich (CSU), Jörg Tauss (siehe oben), Cem Özdemir (Bündnis ’90/Die Grünen), Edzard Schmidt-Jortzig (FDP) und Christa Luft (PDS). Den Internetzugang sponserte die Firma EUnet.

Die Ziele der Projekts lasen sich wie folgt: „Die beteiligten Abgeordneten sollen per E-Mail erreichbar sein und diese dann natürlich auch lesen und beantworten. Zum zweiten sollen alle Abgeordneten möglichst umfangreiche Informationen über sich und ihre Arbeit in Bonn bzw. im Wahlkreis im WWW zur Verfügung stellen. Die Seiten sollen explizit keine einfache Übertragung von bunten Wahlbroschüren auf WWW-Seiten sein, sondern ‚harte Informationen‘ […] Zugleich werden im Rahmen des Pilotprojekts Informationen rund um den Deutschen Bundestag angeboten.“

Nach einem Jahr endeten die „Abgeordneten im Internet“. Konkrete Resultate fanden wir leider keine. Möglicherweise wurde das Projekt durch die Fortschritte des WWW überholt. Anfang 1996 erhielt der Deutsche Bundestag eine Leitseite, wie man damals sagte. Sie enthielt auch einen „Briefkasten“, über den man Abgeordnete, Fraktionen, Ausschüsse und andere Adressaten elektronisch kontaktieren konnte. Der Bürger wurde aber um die Angabe seiner Postanschrift gebeten, denn: „Einige Stellen des Deutschen Bundestages können Antworten noch nicht per E-Mail verschicken.“

1998 zählte der SPIEGEL rund 100 Parlamentarier von insgesamt 672 mit eigener Website. Die Nachfrage war aber meist gering. Ein Thüringer CDU-Abgeordneter erhielt in acht Monaten 320 Zugriffe. Diese Zahlen haben sich inzwischen geändert, ebenso die Zahl der persönlichen Seiten. Heute dürfte jede(r) Abgeordnete(r) eine solche besitzen. Man findet sie über www.bundestag.de, wenn man das kleine Männchen rechts oben in der Leiste anklickt. Dann erscheinen die Volksvertreter von A bis Z. Jede Biographieseite zeigt das Internetprofil samt Homepage, Facebook und Twitter.

Von den sechs Internet-Abgeordneten von 1995/96 sitzt nur noch einer im Parlament, Cem Özdemir. Er ist mittlerweile Bundesvorsitzender seiner Partei. Auf unserem Eingangsbild erkennt man ihn hinter Joschka Fischer, der an der Brille nagt. Das Foto entstand 1998 im neu gebauten aber bald wieder aufgegebenen Bonner Plenarsaal (Copyright Deutscher Bundestag/Werner Schüring).

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