Der Computer des Jahrhunderts
Geschrieben am 04.04.2019 von HNF
Was war der bedeutendste Computer aus der guten alten Zeit, als sie groß und teuer waren? Einiges spricht für das System/360 der Firma IBM, auch bekannt als IBM 360. Es wurde vor 55 Jahren am IBM-Standort Poughkeepsie angekündigt. Die Kunden erreichte es ab 1965. Das System/360 prägte jahrelang das Bild des Elektronenrechners in der Öffentlichkeit.
Im Frühjahr 1964 wurden Computer noch nicht in San Francisco und Umgebung enthüllt. 200 Journalisten und eingeladene Gäste bestiegen um 8.30 Uhr einen Sonderzug in New York und fuhren gut hundert Kilometer nach Norden. Dort befand sich im Ort Poughkeepsie eine Fabrik von IBM, wo am 7. April 1964 eine besondere Präsentation anstand. In 165 anderen Städten und in vierzehn Ländern außerhalb der USA fanden IBM-Termine zum gleichen Thema statt.
Das war das System/360. In Poughkeepsie, gesprochen „Pokipsi“, trat IBM-Chef Thomas Watson junior vor die Presse. Die Windrose hinter ihm deutete an, was zu jener Zahl geführt hatte: die 360 Grade des Horizonts. Ähnlich komplett sollte die neue Computerfamilie des Herstellers sein. Sie eignete sich nicht nur für Wirtschaft und Verwaltung, sondern auch für Wissenschaft und Technik und deckte die unterschiedlichsten Anforderungen ab. Wer von einer Version zu einer größeren oder schnelleren wechselte, konnte seine alten Computerprogramme problemlos weiterbenutzen.
Mit anderen Worten, IBM hatte die Kompatibilität erfunden: Software, die auf einer 360-Maschine lief, funktionierte auch auf allen anderen. Mitnehmen konnte man die neuen Rechner noch nicht; die Auslieferung an die Kunden wurde erst fürs dritte Quartal 1965 angekündigt. Die Preise standen aber schon fest. Sie reichten von 133.000 Dollar für die kleinste Ausführung bis 5,5 Millionen für das Spitzenmodell. Wer eine IBM 360 nur mietete, zahlte je nach Hardware zwischen 2.700 und 115.000 Dollar im Monat.
Das Konzept für das Computersystem entsprang einer zwölfköpfigen Arbeitsgruppe von IBM-Managern und –Ingenieuren. Sie trafen sich im November und Dezember 1961 in einem Motel im US-Bundesstaat Connecticut. Ihr Bericht lag am 28. Dezember 1961 vor; er war der Ausgangspunkt für die weiteren Arbeiten. Insgesamt steckte IBM fünf Milliarden Dollar ins Projekt. Die Firma machte 1961 einen Umsatz von mehr als zwei Milliarden, sie ging ein immenses Risiko rein. Die Presse sprach von Glücksspiel und „betting the company“.
Die Entwicklung des Systems/360 und seiner Software leitete der dreißigjährige Frederick Brooks. Er hatte Mathematik und Physik studierte; 1956 promovierte er in Harvard beim Computerpionier Howard Aiken und ging danach zur IBM. Für die Mikroelektronik war der gebürtige Deutsche Erich Bloch zuständig. Als Junge floh er vor den Nazis in die Schweiz; 1948 emigrierte er in die USA. Ein weiterer Top-Entwickler war der Physiker Gene Amdahl. Er wurde später durch seine eigene Computerfirma bekannt.
Die Computer der 360-Familie verwendeten noch keine integrierten Schaltungen. IBM setzte stattdessen auf die Solid Logic Technology oder SLT. Die Technik ermöglichte zwischen 33.000 und 750.000 Additionen pro Sekunde. Sie wird hier im Video erläutert – bitte zu Minute 2:45 gehen. Die Schaltkreise auf Halbzoll-Keramikplättchen bildeten den Höhepunkt und Abschluss der Miniaturisierung von einzelnen Transistoren und Dioden. Ab 1968 drangen integrierte Schaltungen aber auch in IBM-Produkte ein.
Das kleinste 360-Modell, die IBM 360/20, wurde am Standort Böblingen entwickelt und gefertigt. Es sollte ältere Systeme für die Datenverarbeitung mit Lochkarten ersetzen. Die deutsche IBM war ein großer Erfolg; allein in den USA liefen mehr als 7.400 Rechner. Das Bild der Computerfamilie wurde aber durch die teuren Modelle und ihre eindrucksvollen Schaltbretter geprägt. Das eindrucksvollste zierte die IBM 360/91, die ab 1968 für die NASA arbeitete. Das war auch der Computer, der IBM einen jahrelangen Rechtsstreit mit der Konkurrenz von Control Data bescherte.
Das Risiko, dass die Firma mit dem System/360 einging, zahlte sich bald aus. Vier Wochen nach der Präsentation waren tausend Bestellungen eingetroffen. Ende 1966 hatte IBM über siebentausend Anlagen installiert und 25.000 neue Mitarbeiter eingestellt. In jedem Monat verließen eintausend Systeme die Fabriken. Von 1964 bis 1970 stieg der Umsatz von 3,2 auf 7,5 Milliarden Dollar; der Gewinn übersprang die Milliardengrenze. Die Belegschaft wuchs auf 269.000 Köpfe. Noch 1989 bestritten 360-Systeme und ihre Abkömmlinge mehr als die Hälfte der IBM-Einkünfte.
Eine besondere Hinterlassenschaft der Mainframes ist das Byte. Zwar erfand der in Detmold geborenen IBM-Ingenieur Werner Buchholz das Maß schon in den 1950er-Jahren, doch die 360-Rechner machten es weltweit populär. Ein literarisches Erbe ist das Buch „Vom Mythos des Mann-Monats“; Fred Brooks legte darin 1975 seine Erfahrungen als Projektleiter nieder; er verfasste das Werk natürlich erst nach dem Weggang von IBM. Es zählt zu den Klassikern der Betriebswirtschaft; die amerikanische Originalfassung ist online.
Das System/360 sicherte jahrzehntelang die Vormachtstellung von Big Blue im globalen Computermarkt und prägte das Bild des Computers in der Öffentlichkeit. Brachten die großen Maschinen zunächst die Zukunft, so galten sie bald als Bedrohung von Freiheit und Privatsphäre. Heute sind die IBM-Rechner nur den Experten bekannt – so ändert sich die Zeit. Unser Eingangsbild verdanken wir dem Nationalmuseum für amerikanische Geschichte der Smithsonian Institution. Es zeigt ein Modell des Modells 30 der 360-Familie.
Ein schöner Beitrag, auch wenn ich gerne mehr über die Einsatzgebiete der Maschinen gelesen hätte.