Der digitale Globus

Geschrieben am 14.01.2022 von

Die Netflix-Serie „The Billion Dollar Code“ erzählte im Oktober von der Software Terravision. In den frühen 1990er-Jahren in Berlin erstellt, nahm sie das System Google Earth vorweg. Eine Patentklage des Entwicklers ART+COM gegen Google scheiterte jedoch. Im Folgenden möchten wir uns mit der Geschichte der virtuellen Geografie befassen, die vor drei Jahrzehnten ihren Anfang nahm.

1492 entdeckte Christoph Columbus Amerika. Zur gleichen Zeit fertigte Martin Behaim in Nürnberg seinen Erdapfel an, den ältesten erhaltenen Globus. 500 Jahre später entstand in Wien eine digitale Version. In der Fachwelt gilt sie als die erste Darstellung unserer Heimat, die man am Computer studieren konnte. Inzwischen gibt es eine Fassung auf YouTube.

In den frühen 1990er-Jahren starteten zwei Projekte, die virtuelle Globen der uns heute bekannten Welt zum Ziel hatten. Das erste trug den Titel TerraVision; verantwortlich war das Forschungsinstitut SRI International im kalifornischen Menlo Park. Die Software gehörte zu einem größeren Vorhaben namens MAGIC, sie stand 1996 im Abschlussbericht. Zum ersten Mal vorgeführt wurde TerraVision Ende 1993. Hier ist ein SRI-Papier dazu aus dem April 1994, und hier finden sich einige Bilder.

TerraVision lieferte eine Sicht auf die Erde wie auch Zooms auf Plätze am Boden. 1994 existierte eine Homepage; das Internet Archive zeigt ihren Zustand im Jahr 2000. Die Software ist noch erreichbar, allerdings warnte unser Browser vor einem Sicherheitsrisiko. Schon bald erhielt das System Konkurrenz aus Deutschland. Die Berliner Firma ART+COM entwickelte mit Förderung der Bundespost das Programm T-Vision. Mit Projektleiter Gerd Grüneis arbeiteten Pavel Mayer, Axel Schmidt und Joachim Sauter, Professor an der Berliner Hochschule der Künste.

Der Berg Fujiyama in der geografischen Software WorldWind.

Die Premiere erlebte T-Vision im Herbst 1994 in Kyoto auf einer Tagung der Internationalen Fernmeldeunion ITU. Ein Video von damals zeigt den Flug vom Startpunkt hoch über Japan nach Europa und Berlin; die Reise endet im ART+COM-Büro neben der Gedächtniskirche. Gut erkennbar sind die Steuergeräte, eine 3D-Maus für die Flugbewegungen und eine große Kugel, mit der man den Erdball auf dem Monitor drehte. Im Dezember 1995 meldete das Entwicklerteam ein Patent für T-Vision an, das allerdings nie gewährt wurde.

TerraVision und T-Vision benötigten Hochleistungsrechner und Datenbanken, was eher Spezialisten interessierte. 1996 nannte sich das deutsche Projekt in Terravision um und erschien unter diesem Namen im SPIEGEL. Aus dem Jahr 1998 ist ein Video von der CeBIT überliefert; es wurde wohl auf dem Stand der neu gegründeten Deutschen Telekom gedreht. Wer sich für digitale Geografie interessierte, griff aber meistens zu CDs. Gleich vierzehn von ihnen steckten im Satellitenatlas D-SAT 2, den die Buhl Data Service GmbH 1997 anbot.

In Kalifornien startete der 1967 geborene John Hanke um das Jahr 2000 die Firma Keyhole; ihr Produkt war die Software EarthViewer. Sie erzeugte ähnliche Bilder wie Terravision, lief  aber auf einem Personal Computer. Einen Eindruck vermitteln Videos von 2001 und 2002 sowie ein Artikel aus jenem Jahr. Der EarthViewer ging unter anderem auf einen früheren Mitarbeiter des Computerbauers Silicon Graphics zurück, Michael Jones. Er lernte in den 1990er-Jahren die deutsche Terravision kennen und war nun mit Keyhole verbunden.

Satellitenaufnahme der Insel Rügen im System WorldWind

2003 zog der EarthViewer die Aufmerksamkeit der Amerikaner auf sich, als er in den Berichten des Senders CNN zum Irak-Krieg erschien. Auch die CIA interessierte sich für die Software. 2004 landete die Mutterfirma Keyhole in den starken Armen von Google, 2005 brachte die Suchmaschine den Dienst Google Earth heraus. 2006 kam es zu Kontakten zwischen ART+COM und Michael Jones, der jetzt für Google arbeitete. Jones flog nach Berlin und sprach mit den Deutschen über Copyright-Fragen; Vereinbarungen ergaben sich keine.

Die Software Terravision erhielt hierzulande kein Patent, wohl aber in den USA, und 2014 verklagte ART+COM Google wegen Patentverletzung. Der Vorwurf lautete, dass Michael Jones und sein Keyhole-Kollege Brian McClendon den EarthViewer und damit Google Earth bei Terravision abgekupfert hätten. In zwei Prozessen 2016 und 2017 steckte die Berliner Firma jedoch Niederlagen ein; hier ist das negative Urteil vom 20. Oktober 2017. Die Gerichte schlossen sich dem Argument von Google an, dass der virtuelle Globus eine Erfindung von SRI International und das Patent von ART+COM deshalb nichtig war.

Aber digitale Geografie ist mehr als Google Earth. Aus den 2000er-Jahren stammt ein Verzeichnis von Whole-Earth Images – manche Links leben noch. Neue virtuelle Globen finden sich in der deutschen und der englischen Wikipedia, googeln kann man nach Google Earth Alternativen. Gut gefiel uns WorldWind von der NASA. Eine Einführung in die Geschichte digitaler Globen verfasste 2010 der Wiener Kartograf Andreas Riedl. Hinweisen möchten wir außerdem auf unseren Blogbeitrag zu Google Maps.

WorldWind-Sicht von Redondo Beach, einem Vorort von Los Angeles

Der Rechtsstreit ART+COM gegen Google inspirierte die vier Folgen zählende Netflix-Serie The Billion Dollar Code, die im Oktober 2021 ausgestrahlt wurde. Er gesellte sich zu zwei anderen großen Patentkonflikten der IT-Geschichte, dem Z3-Prozess, den Konrad Zuse 1967 verlor, und dem ENIAC-Verfahren von 1971/72, bei dem John Mauchly and Presper Eckert die Erfindung des Elektronenrechners aberkannt wurde. Eine traurige Meldung zum Schluss: zwei der von uns erwähnten Pioniere, Joachim Sauter und Michael Jones, starben 2021; Stephen Lau, einer der Väter der SRI-TerraVision, erlag 2020 einer Covid-Erkrankung.

Tags: , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Ein Kommentar auf “Der digitale Globus”

  1. joru sagt:

    Wow. Leute, danke für den Artikel!

    Aber „1492 entdeckte Christoph Columbus Amerika“, echt jetzt?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir stellen diese Frage, um Menschen von Robotern zu unterscheiden.