Schulcomputer aus Göttingen

Geschrieben am 30.01.2024 von

Den ersten deutschen Lehrcomputer baute 1959 der Informatiker Nikolaus Lehmann in Dresden. Er besaß eine Von-Neumann-Architektur und arbeitete mit Relais. 1967 stellte die Göttinger Phywe AG einen didaktischen Relaisrechner vor. Er basierte auf einem Beitrag für den Wettbewerb „Jugend forscht“. In den 1970er-Jahren schuf die Firma den Schulcomputer PDR 10 mit einem Mikroprozessor von Intel.

Ältere Leser und Leserinnen erinnern sich vielleicht an Experimente in der Physikstunde, bei denen Geräte zweier Firmen zum Einsatz kamen. Das waren Leybold in Köln und Phywe in Göttingen. Keines der Unternehmen existiert noch in der alten Form, doch es überlebten einige Phywe-Schulcomputer aus den 1960er- und 1970er-Jahren.

Der Phywe-Relaisrechner des HNF. Für eine genaue Inspektion bitte auf das Bild klicken.

Phywe wurde 1913 als Gesellschaft zur Erforschung des Erdinnern mittels elektrischer Wellen gegründet. Ab 1918 hieß die Firma Physikalische Werkstätten GmbH und stellte Lehrmittel für Physik her. Es folgten Geräte für Chemie und Biologie. 1920 verwandelte sich die GmbH in eine AG; ihre Produkte trugen das Kürzel Phywe. 1940 erhielt das Unternehmen den Namen. 1945 fiel das Werk in Göttingen dem Bombenkrieg zum Opfer. 1953 hatte Phywe wieder 600 Angestellte und beherrschte den Markt für naturwissenschaftliches Unterrichtsmaterial.

Rechentechnik wurde damals nur mit dem Rechenschieber gelehrt; eine Ausnahme bildete das Gerät, das der IT-Pionier Nikolaus Lehmann 1959 in Dresden schuf. Es enthielt Relais, Drehwähler und Selen-Dioden und realisierte die Von-Neumann-Architektur. In den 1960er-Jahren entwickelten vier Schüler des Frankfurter Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums, angeleitet von ihrem Physiklehrer, ebenfalls einen Relaiscomputer. Heinz Birk, Jörg Briechle, Werner Fabian und Gottfried Horlacher wurden damit 1966 Bundessieger beim Wettbewerb „Jugend forscht“ in der Kategorie Gruppenarbeit.

Der Phywe-Relaisrechner von 1967 direkt von vorn  (Foto Bernd Ulmann)

Das „Funktionsmodell eines Rechenautomaten“ erregte das Interesse der Phywe AG. Sie fertigte von ihm dreißig Stück, zudem erschien ein Begleitbuch. Eine Beschreibung von 1967 steht hier. Auf der Vorderseite des Modells erkennt man 69 Relais und das Aufbauschema, das die klassischen Elemente eines Computers anzeigt: Rechen- und Leitwerk, Speicher sowie Ein- und Ausgabe. Weitere Relais saßen auf der Rückseite. Die Maschine rechnete mit Sechs-Bit-Worten und acht Befehlen, die eine Anweisung und eine Adresse enthielten. Der Speicher nahm maximal acht Worte auf.

Offenbar verlieh Phywe dem Computer keinen eigenen Namen, sondern sprach nur von einem „Programmgesteuerten Rechner“. Mindestens vier Exemplare blieben erhalten. Eines befindet sich im Depot des HNF – siehe oben – und ein weiteres im Museum der Universität von Amsterdam. Eines ist in der Sammlung des Hochschulprofessors Bernd Ulmann nahe Wiesbaden; wir danken ihm für die Erlaubnis, sein Foto benutzen zu können. Der vierte Rechner steht im Depot des Computer Cabinetts Göttingen CCG; das ist ein Video dazu.

Der Speicher des Phywe PDR 10 fasst 32 Byte, die in zwei Gruppen von je sechzehn Speicherplätzen angezeigt werden. Links sind die sechzehn Befehle aufgelistet.

Das Computer Cabinett verwahrt ebenso zwei Geräte vom Typ Phywe PDR 10, bitte 10 dual als 2 lesen. Der „Programmgesteuerte DemonstrationsRechner“ trat 1975 die Nachfolge der Relaismaschine an. Er übersprang die Röhren- und die Transistorgeneration und kam mit dem Mikroprozessor Intel 4004 heraus; es wurden sechzehn Stück verkauft. Der PDR 10 ist in unserem Eingangsbild zu sehen; seine Breite beträgt 1,20 Meter. Dieses Video zeigt die Funktionsweise und das die Addition von 5 und 7. Hier zieht er eine Quadratwurzel. Das CCG ersetzte allerdings den Intel- durch einen Arduino-Chip.

Der PDR 10 rechnete im Bereich der ganzen Zahlen von –127 bis 127. Wie bei dem Relais-Vorläufer existierte ein Begleitbuch, das eine Anzahl Programme enthielt; sie stammten größtenteils aus der Mathematik. Ein Programm wurde mit „Simulation eines Autorennens“ überschrieben, es beantwortete die Frage, wann ein Wagen einen etwas früher gestarteten und langsameren Konkurrenten einholt. Die Autoren gingen auch auf die Chiptechnik ein und erwähnten „sogenannte Microcomputer“. Damit meinten sie aber Prozessoren und nicht die schon erhältlichen Kleinrechner – das Buch erschien 1977.

Das „Digitale Experimentiersystem“ von Leybold (Foto technikum29 CC BY-NC 4-0 DEED)

Der PDR 10 war in den 1970er-Jahren nicht allein auf dem Markt. 1974 brachte Siemens ein „Demonstrationsmodell für Informationsverarbeitung“ heraus. Die Frontfläche maß einen Quadratmeter, auf der Rückseite steckte der Prozessor. Hier steht etwas mehr zum Gerät. Schon 1972 schufen die Funktechnischen Werkstätten im Erzgebirgsstädtchen Geyer einen „Demonstrationsrechner RSG 103“. Die Firma führte auch den Namen Rainer C. H. Schmitz KG; sie dürfte der einzige nicht-volkseigene Computerbauer der DDR gewesen sein.

Schließlich treffen wir auch Leybold wieder. Ein Experimentiersystem aus den Siebzigern überlebte im technikum29 – bitte etwas scrollen. Es führte in die Grundlagen der digitalen Elektronik ein. Das Gerät erinnert an den Lectron-Baukasten aus den 1960er-Jahren, der sich bis 2022 hielt. Phywe meldete 1987 Konkurs an; 1988 gelang aber der Neustart. Die Leybold-Lehrmittel machten 2007 eine Insolvenz durch und gehören heute zur LD DIDACTIC GmbH. Die Schulcomputer sind mittlerweile Technikgeschichte.

„Demonstrationsrechner RSG 103“ in den Technischen Sammlungen Dresden – Draufklicken macht das Bild größer.  (Foto Dr. Bernd Gross CC BY-SA 4.0 DEED seitlich beschnitten)

Wir danken Professor Jens Kirchhoff vom Computer Cabinett Göttingen für sachliche Hinweise und die Möglichkeit, einen Blick ins Begleitbuch des PDR 10 werfen zu können.

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