Siemens und die Staatssicherheit

Geschrieben am 09.06.2020 von

Im Februar wurde bekannt, dass die Schweizer Crypto AG jahrelang der CIA und dem BND gehörte. Die Geheimdienste sorgten dafür, dass ihre Chiffriergeräte zu knacken waren. Am Rand wirkte an der Operation auch Siemens mit. 1969 kam der Konzern mit einem anderen Geheimdienst in Kontakt. Ohne es zu wissen, verkaufte Siemens Computer an die Stasi.   

Im September 1970 schrieb die ZEIT unter dem Titel „Computer-Bande mit Moskau“ über die Firma Siemens und ihre Geschäfte mit dem Ostblock. Damals lief Siemens-Hardware für 50 Millionen DM in sozialistischen Ländern. Siemens hoffte auf weitere Verträge im Wert von 40 Millionen DM. „So stehen auf der Siemens-Auftragsliste beispielsweise Prozeßrechner für chemische Werke […] und vor allem drei Großanlagen für wissenschaftliche Dokumentation in der DDR.“

Die drei Rechner waren vom Typ Siemens 4004-45, dem neuesten Modell des Münchner Konzerns. Das Eingangsbild (Foto Siemens Historical Institute) zeigt es zusammen mit Peripheriegeräten. Die 4004 basierte auf der Spectra 70 des amerikanischen Herstellers RCA; sie enthielt integrierte Schaltungen und besaß Arbeitsspeicher bis zu 512 Kilobyte. Der Benutzer der Computer war – jedenfalls auf dem Papier – das Zentralinstitut für Information und Dokumentation ZIID der DDR. Für Hardware und Software setzte Siemens einen Preis von 23.151.060 D-Mark an.

Das Modell 3003 war der erste Siemens-Computer der DDR. Diese Anlage steht im Computermuseum der Fachhochschule Kiel.

Schon 1966 hatte der Konzern einen Computer in der DDR installiert, eine Siemens 3003. Der silberglänzende Transistorrechner verarbeitete Daten aus 23 Centrum-Warenhäusern. Im gleichen Jahr konnte die Zuse KG eine Z25 an eine chemische Fabrik in Wolfen verkaufen. Neben Rechnern aus westdeutscher Produktion importierte die DDR einen bunten Strauß ausländischer Fabrikate aus der Sowjetunion, Polen, England, Frankreich und den USA. Selbst zwei Modelle des Systems 360 von IBM gelangten hinter den eisernen Vorhang.

Am 30. Juni 1969 reiste eine siebenköpfige Delegation aus der DDR nach München. Dort wurde sie zwei Wochen lang von Siemens-Mitarbeitern in das System 4004-45 und die Datenbank-Software GOLEM eingeführt. Man besprach außerdem das noch zu errichtende Rechenzentrum in Ost-Berlin. Die Delegation leitete der promovierte Mathematiker Gerhard Bäßler. Er war Jahrgang 1935 und hatte die „Rechenstation“ der Technischen Hochschule von Karl-Marx-Stadt aufgebaut, wie Chemnitz zu DDR-Zeiten hieß. Hier sehen wir ihn auf dem oberen Foto mit Studentinnen.

Was die Siemensianer nicht wussten: Ihre Besucher kamen nicht vom Zentralinstitut für Information und Dokumentation, sondern vom Ministerium für Staatssicherheit. Dr. Bäßler gehörte dem Ministerium seit 1968 an; er war stellvertretender Leiter für Technologie und Programmierung der Arbeitsgruppe XIII. Sie war erst im Juni 1969 geschaffen worden und wurzelte in der 1964 gegründeten Arbeitsgruppe zur Sicherung des Reiseverkehrs. Diese erfasste alle Bürger der BRD, die den Boden der DDR betraten. In Zukunft sollten dabei Computer helfen.

Eine Siemens 4004 überlebte im Computer History Museum in Kalifornien. Sie stammt aus der Sammlung der Technischen Hochschule Aachen. (Foto Computer History Museum)

Die nichts ahnende Siemens AG  hielt in den folgenden Monaten Programmierkurse für die Anlagen ab; sie fanden teils in Ost-Berlin und teils in Westdeutschland statt. Parallel dazu bemühte sich die Firma um die Zustimmung der US-Regierung zum Export. Schnelle Rechner wie das System 4004-45 standen in der CoCom-Liste; sie führte hochtechnologische Güter auf, die auf keinen Fall in den Osten gelangen sollten. Durch Verhandlungen in Washington erreichte der Siemens-Vorstand aber eine Ausnahmegenehmigung.

Im Frühjahr 1970 entstand im Ost-Berliner Bezirk Wuhlheide nicht weit vom Pionierpark Ernst Thälmann – dem heutigen FEZ – ein Flachbau. Von August bis Dezember wurden darin die drei Siemens-Computer mit der gesamten Peripherie installiert. Im Foto erkennt man eine Zentraleinheit und mehrere Speicherschränke, dazu Platten- und Bandlaufwerke. Als Käufer der Anlagen trat das Außenhandelsunternehmen Interver auf. Sein Geschäftsführer Horst Schuster war inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit mit dem Decknamen Sohle.

Eine feierliche Übergabe der drei 4004-Computer fand nicht statt, doch bis in die 1980er-Jahre bestand ein fachlicher Kontakt zwischen dem Rechenzentrum in Wuhlheide und der Berliner Niederlassung von Siemens. Gründe dafür waren die Pflege der GOLEM-Software und der weitere Ausbau der Plattenspeicher. Ab 1974 nahmen die Computer auch Informationen der Hauptverwaltung Aufklärung auf, des Spionagedienstes der DDR. Sie bildeten die Datenbank SIRA; wir haben sie im Blog schon geschildert.

Ingrid Köppe im Jahr 1990 (Bundesarchiv, Bild 183-1990-0115-018 / Mittelstädt, Rainer / CC-BY-SA 3.0 seitlich beschnitten)

Der wahre Zweck ihrer Computer blieb der Siemens AG wahrscheinlich verborgen. 1983 floh aber der oben erwähnte Horst Schuster in die Bundesrepublik; hier offenbarte er sich dem Bundesnachrichtendienst. Schuster sprach über das Rechenzentrum in Wuhlheide und schloss nicht aus, dass es die Stasi nutzte. Informierte der BND nun die Siemens-Spitze? Der Geheimdienst war alter Kunde und bekam schon früh eine Siemens 2002. Siemens stellte auch den Leiter der von BND und CIA gelenkten Schweizer Chiffriergerätefirma Crypto AG.

Wir möchten offenlassen, wer wann was wusste. Die Siemens-Rechner des MfS überlebten das Ende der DDR nicht. Ihre Geschichte wurde von der Bürgerrechtlerin Ingrid Köppe wiederentdeckt; sie saß im Untersuchungsausschuss des Bundestags, der von 1991 bis 1994 den Westhandel der DDR erforschte. Die Kommerzielle Koordinierung ist besonders mit dem 2015 verstorbenen Alexander Schalck-Golodkowski verknüpft. Der Bericht von Ingrid Köppe wurde sofort zur Verschlusssache, er kann aber hier und hier studiert werden.

2019 wurden die 4004-45-Systeme in Wuhlheide vom Historiker Rüdiger Bergien ausführlich beschrieben. Im gleichen Jahr veröffentlichte Stephan Konopatzky ein Buch über die auf ihnen gespeicherte Datenbank SIRA. Wir bedanken uns bei Christoph Frank vom Siemens Historical Institute für das Foto der Siemens 4004 und bei Gabriele Sowada für das Bild der Siemens 3003.

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