Tennis für zwei
Geschrieben am 17.10.2023 von HNF
Der Monitor hatte nur fünf Zoll Durchmesser, aber die Menschen standen vor ihm Schlange. Am 18. und am 19. Oktober 1958 zeigte das Forschungszentrum Brookhaven nahe New York das erste frei zugängliche Videospiel. „Tennis für zwei“ war eine Erfindung des Physikers William Higinbotham. Es simulierte ein Match mit einem Analogrechner, einem Oszilloskop und zwei Bedieneinheiten.
Das Brookhaven National Laboratory liegt in der Mitte von Long Island. Durch seine Gründung im Jahr 1947 erhielt der Nordosten der USA ein Forschungszentrum für Kernphysik. 1952 lief ein Reaktor und 1952 das Cosmotron, der stärkste Teilchenbeschleuniger der Welt. 1958 hatte Brookhaven ein Budget von 18,5 Millionen Dollar und 375 fest angestellte Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler.
Einer von ihnen war William Higinbotham. Er wurde am 22. Oktober 1910 als Sohn eines Pastors in Neuengland geboren und wuchs im Westen des US-Bundesstaats New York auf, bevor er Physik studierte: Ab 1941 arbeitete er im Massachusetts Institute of Technology in der Radarforschung. 1943 wechselte er in das geheime Entwicklungszentrum von Los Alamos, wo die Atombombe entstand; ab 1944 leitete er die Elektronik-Abteilung. Im Juli 1945 erlebte Higinbotham den erfolgreichen Test der Waffe in der Wüste von New Mexico mit.
Nach dem Krieg engagierte er sich für die Begrenzung und Kontrolle der atomaren Rüstung. 1946 war er der erste Generalsekretär der Federation of American Scientists. Von 1947 bis zur Pensionierung 1984 saß er in Brookhaven, ab 1958 als Chef des Bereichs Rechen- und Messinstrumente. Higinbotham machte sich auch Gedanken zu den jährlichen Tagen der offenen Tür. An diesen konnten Schüler, Studenten und andere Fans der Wissenschaft die Attraktionen des Forschungszentrums besichtigen. Außerdem wurden in der Sporthalle verschiedene Messgeräte gezeigt.
Gewöhnlich lockte dieser Teil des Programms kaum Besucher an. Am 18. und 19. Oktober 1958 war es anders. Menschen strömten in die Halle und reihten sich an einer Installation auf; im Eingangsbild ist sie links zu sehen. Dort standen ein Analogrechner vom Typ Donner 3000 und ein Oszilloskop mit einem Fünf-Zoll-Bildschirm; vor ihm lagen zwei Kästchen mit Druckknöpfen und Drehschaltern. Mit ihnen konnten zwei Personen einen heller Punkt auf dem Monitor hin und her schicken. Kurzum, die Installation bildete ein Videospiel.
Es war eine Idee von William Higinbotham. Er skizzierte in zwei Stunden die Schaltung, in zwei oder drei Tagen legte er die Hardware fest. Danach stellte ein Techniker in drei Wochen das System fertig; zwei Tage dauerte das Beseitigen von Fehlern. Die Premiere erfolgte am 18. Oktober 1958. „Tennis für zwei“, wie es später hieß, können wir das erste praktisch erprobte Videospiel nennen. Schon 1947 erdachten die Amerikaner Thomas Goldsmith und Estle Ray Mann ein Spiel für eine Kathodenstrahlröhre, es lief aber nur im Labor.
Nach der Premiere wurde Higinbothams Spiel 1959 erneut an den Tagen der offenen Tür aufgebaut. Es hießt jetzt „Computer Tennis“, wobei der Computer ein Analogrechner war. Die User schauten auf einen größeren Monitor; zudem ließ sich die Gravitation variieren. Man konnte zum Beispiel ein Match auf dem Mond simulieren. Heute gibt es für unser Spiel ein Programm im Internet, es ist auch möglich, allein zu spielen. Bitte beachten: Es existiert kein Symbol für die Tennisschläger, der Druck auf den Knopf wendet den Ball in der Luft.
Nach 1959 wurde „Tennis für zwei“ demontiert. 1976 geriet William Higinbotham noch einmal ins Licht der Öffentlichkeit, als er in einem Patentprozess zwischen den Firmen Magnavox und Atari als Gutachter auftrat. Es ging um den Ursprung des Computerspiels. Im Jahr 1982 besuchte ihn ein Reporter des Magazins Creative Computing am Arbeitsplatz. Der Physiker starb am 10. November 1994 in Gainesville im US-Bundesstaat Georgia. Seine Erfindertat wurde 2022 von der ZEIT zu den Sternstunden der Menschheit gezählt.
Wer sich für Details von „Tennis für zwei“ interessiert, findet hier und hier Schaltpläne. Das ist ein Bericht der Illustrierten LIFE über Brookhaven im Sommer 1958; auf einem Foto sehen wir William Higinbotham. Er half damals auch an der Konstruktion des örtlichen Computers Merlin mit, der 1959 in Betrieb ging. Merlin war ein Röhrenrechner und wurde bald durch eine IBM 7090 ersetzt. Er inspirierte aber noch Jef Raskin, der später in der Firma Apple die Entwicklung des Macintosh startete. So klein kann die Computerwelt sein.