Weben mit Lochkarten

Geschrieben am 07.07.2017 von

Es ist kein sehr rundes Jubiläum, doch wir können es trotzdem feiern. Vor 265 Jahren, am 7. Juli 1752, wurde in Lyon Joseph-Marie Jacquard geboren. Im frühen 19. Jahrhundert entwickelte er den nach ihm benannten Webstuhl mit Lochkarten-Steuerung. Er erzeugte Textilien mit komplizierten Mustern und Bildern. Jacquards Karten inspirierten später den englischen Computervisionär Charles Babbage.

Das Weben ist neben dem Spinnen die älteste Technik der Menschheit. Praktiziert wurde es in einfacher Weise schon am Ende der Altsteinzeit. Die Ägypter der Pharaonen-Ära kannten den flachen Webstuhl; hier wird der Stoff horizontal aufgespannt. Im Mittelalter kam die Konstruktion mit Pedalen auf; daraus erstand der gerüstförmige Handwebstuhl. In der industriellen Revolution verbreitete sich die mechanische Ausführung.

Seit dem 16. Jahrhundert entwickelte sich die französische Stadt Lyon zu einem Zentrum der Seidenweberei. Diese ist die schwierigste Sparte der Technik, denn es sollten Stoffe mit Mustern und Bildern in vielen Farben entstehen. In der Regel arbeiteten ein Weber und ein Gehilfe am Webstuhl zusammen. Ersterer führte die Grundoperationen aus, der Helfer kümmerte sich um die verschiedenen Querfäden. Beide mussten aufpassen, dass die dünne Seide nicht riss, denn ein Knoten hätte die Qualität des Stoffes verschlechtert.

In diese Welt wurde am 7. Juli 1752 Joseph-Marie Jacquard hineingeboren. Sein Vater war Weber, sodass er das Handwerk von Kindesbeinen an kennenlernte. In Versailles herrschte König Ludwig XV., und dem Land ging es gut. Die Reichen und Schönen gaben viel Geld für teure Textilien aus, die Seidenweber von Lyon hatten zu tun. Mit 20 Jahren erbte Jacquard den Betrieb des Vaters, doch fehlten ihm die wahre Begeisterung und der Geschäftssinn. Die Heirat mit einer reichen Witwe rettete ihn vor der Armut, und er blieb der Branche treu.

Der Erfinder im Alter. Das Bild wurde mit einem Jacquard-Webstuhl angefertigt.

In den 1780er-Jahren ging es der französischen Wirtschaft schlecht. Nach der Revolution von 1789 erlebte die Weberei in Lyon eine schwere Krise. 1793 brach ein Konflikt zwischen der Stadt und der Regierung in Paris aus. Soldaten belagerten Lyon, die Stadtväter kapitulierten schnell; 2.000 Bürger wurden hingerichtet. Jacquard soll geflüchtet und mit den Revolutionstruppen gegen das Deutsche Reich gekämpft haben. Im Jahr 1800 finden wir ihn aber in seiner Heimat, wo er sich der Verbesserung von Webstühlen widmete.

Ehe wir zu Details kommen, sei erklärt, wie ein Webstuhl funktioniert. Er enthält ein System paralleler Fäden, die Kettfäden. Quer zu ihnen wird der Schussfaden eingeführt; es können auch mehrere sein. Dazu lenkt die Mechanik einen Teil der Kettfäden nach oben aus und den übrigen Teil nach unten. Durch den Zwischenraum saust das Weberschiffchen mit dem Schussfaden. Die Auslenkung der Kettfäden geschieht durch von oben kommende Schnüre, die Litzen. Sie tragen kleine Ringe, durch die jeweils ein Kettfaden verläuft.

Seidenweberei ist langwierig und personalintensiv. Deshalb dachten Spezialisten in Lyon schon früh über eine Rationalisierung nach. 1725 erfand Basile Bouchon eine Steuerung, die einen Streifen mit gelochtem Papier verwendete. Mit den Löchern wurden beim Weben die zu aktivierenden Litzen ausgewählt. Drei Jahre später verbesserte Jean-Baptiste Falcon das Verfahren, indem er statt Papierrollen eine Kette gelochter Pappkarten nahm. Allerdings produzierten die Webstühle von Bouchon und Falcon nur schmale Stoffbänder.

Ein Jacquard-Webstuhl, der 1939 in Chemnitz gebaut wurde (Foto Bjoertvedt CC BY-SA 3.0)

In den 1740er-Jahren nahm sich der berühmte Automatenbauer Jacques Vaucanson des Seidenwebstuhls an. Er konstruierte ein Modell mit einem Zylinder oberhalb der Kettfäden. Um diesen wurde gelochtes Papier – hier kehrte er zur Idee von Bouchon zurück – mit den Daten des Webvorgangs geschoben und abgetastet. Das Konzept scheiterte am Markt, vor allem wegen des teuren Zylinders. Nach Vaucansons Tod gelangte sein Webstuhl ins Conservatoire national des arts et métiers, einer staatlichen Techniksammlung in Paris.

Jacquard studierte die Entwürfe von Bouchon und Falcon genau. Am 23. Dezember 1800 erhielt er das erste Patent für einen, wie man heute sagt, programmierbaren Webstuhl. 1804 schaute er sich in Paris auch die Konstruktion von Vaucanson an und übernahm einige Ideen. Im Frühjahr 1805 besuchte der frisch zum Kaiser gekrönte Napoleon Lyon; dabei ließ er sich Jacquards Webstuhl vorführen. Er übertrug das Patent dafür der Stadt; der Erfinder erhielt zum Ausgleich eine lebenslange Rente und eine Gewinnbeteiligung.

So begann der Aufstieg des Jacquard-Webstuhls. Jede seiner Pappkarten steuerte nur einen einzigen „Schuss“, doch die Anordnung der Löcher in mehreren Reihen ermöglichte Stoffe in normaler Breite. Ein geübter Handwerker webte 60 Zentimeter Seide pro Tag. An den alten Webstühlen hatten zwei Mann maximal drei Zentimeter geschafft. Zunächst setzte sich die Maschine von Jacquard nur langsam durch; nach weiteren Verbesserungen durch den Mechaniker Jean Antoine Breton wurde sie aber ein Erfolg.

Jacquard-Lochkarten.

Joseph-Marie Jacquard starb am 7. Augst 1834 in Oullins, einem südlichen Vorort von Lyon. Sein Webstuhl tauchte knapp zwei Jahre später, am 30. Juni 1836, im Notizbuch von Charles Babbage auf. Der 44 Jahre alte Mathematiker grübelte in London über einen mechanischen Computer nach, die Analytische Maschine. Diese sollte ein dezimales Rechenwerk wie auch Speicher für Zahlen und Programme enthalten. Babbage dachte zunächst an Trommeln mit eingesteckten Stiften, wechselte dann aber zu Jacquardschen Lochkarten.

Über Charles Babbage und seine Assistentin Ada Lovelace haben wir bereits einige Male im Blog berichtet. Wie man weiß, wurden von der Analytischen Maschine nur wenige Teile gebaut. Babbage erstellte aber eine ganze Anzahl von „Operation Cards“, „Number Cards“ and „Variable Cards“. Auch der junge Herman Hollerith dürfte Jacquard-Webstühlen gekannt haben, als er in den 1880er-Jahren sein Lochkarten-System erfand. Viele von ihnen standen in den Textilfabriken im Nordosten der USA.

Das HNF hat Joseph-Marie Jacquard nicht vergessen und zeigt, siehe Eingangsbild (Foto: Jan Braun, HNF), den Lochkarten-Mechanismus eines Webstuhls. Wer acht historische Jacquard-Webstühle in einem ebenso historischen Weberei-Saal sehen möchte, dem empfehlen wir ein Besuch des Hauses der Seidenkultur. Es steht in Krefeld. Natürlich gibt es auch in Lyon ein Museum über das Weben, die Maison des Canuts. Bon anniversaire, Monsieur Jacquard!

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