Wenn Computer komponieren

Geschrieben am 20.01.2023 von

Im Sommer 1956 gab es im Musikleben der USA gleich zwei Sternstunden. Am 15. Juli strahlte ein Fernsehsender in Los Angeles einen Song aus, dessen Melodie ein Computer komponierte. Der Titel lautete „Push Button Bertha“. Am 9. August 1956 wurden in Urbana-Champaign bei Chicago drei Sätze der ILLIAC-Suite aufgeführt; auch sie entstanden mithilfe eines Elektronenrechners.

Der Sommerhit 1956 in Amerika war The Wayward Wind. Die Country-Ballade schilderte einen Mann, der an einer Bahnstrecke aufwuchs und es deshalb nie lange bei einer Frau aushielt. Sicher hätte er auch schnell die Dame verlassen, die ein anderes Lied jener Zeit besang. „Push Button Bertha“ war eine „sweet machine“ und ein „electronic supersonic friend“, eine elektronische Freundin und schneller als der Schall. Kurz, Druckknopf-Bertha gehörte zur Gattung der Computer.

Ihr Song wurde am 15. Juli 1956 von dem in Los Angeles ansässigen Fernsehsender KABC ausgestrahlt, nach anderen Quellen war es die Station KCOP. Sicher ist, dass der Text vom Rundfunk- und Fernsehstar Jack Owens stammte; er trug das Lied wohl auch vor. Einen Eindruck von Owens und seiner Stimme vermittelt diese TV-Show aus dem Jahr 1948. Leider gibt es von seiner „Push Button Bertha“ weder Tonband- noch Schallplatten-Aufnahmen. Wir kennen aber die Melodie, und sie war die erste, die ein Elektronengehirn schuf.

Die echte „Push Button Bertha“ mit der Mathematikerin Sibyl Rock

Das Notenblatt von „Push Button Bertha“ nannte einen Komponisten namens Datatron. Ihm sind wir bereits im Blog begegnet. Es handelte sich um einen Röhrenrechner der Burroughs Corporation. Sie hatte ihn nicht selbst entwickelt, sondern den Hersteller gekauft, die Firma ElectroData aus dem kalifornischen Pasadena. Der Datatron umfasste eine Zentraleinheit von der Größe eines Kleiderschranks. Davor stand ein Bedienpult mit Kippschaltern und Druckknöpfen. Hinzu kamen Peripheriegeräte für Lochkarten und Magnetbänder.

Das Datatron-Programm für das Bertha-Lied schrieben die Ingenieure Martin Klein und Douglas Bolitho. Klein arbeitete in einer Firma für Raketentriebwerke in Los Angeles und am Wochenende fürs Fernsehen, Bolitho hatte einen Job bei Burroughs. Die zwei untersuchten hundert erfolgreiche Pop-Songs und leiteten sechs Regeln für die Notenfolgen ab – Klein schilderte sie 1957 in einer Elektronikzeitschrift, siehe PDF-Seite 37. Der Computer wählte nach dem Zufallsprinzip eine Zahl zwischen 0 und 9 aus. Danach prüfte er, ob sie als Note interpretiert zu einer schon gespeicherten Folge passte.

Wenn ja, verlängerte sich die Folge um jene Zahl, andernfalls wählte der Rechner eine neue aus. Die Prozedur stoppte bei spätestens sechzig Zahlen. So entstanden viele Melodien, von denen am Ende genau eine verwertet wurde, eben „Push Button Bertha“.

Der ILLIAC um 1957; rechts stehen der Mathematiker Donald Gillies und seine Frau Betsy. (Foto SystemBuilder CC BY-SA 4.0 seitlich beschnitten)

Einzigartig war auch unser nächstes Musikstück. Die ILLIAC-Suite erzeugte der gleichnamige Computer, der 1952 in der Universität von Illinois in Urbana-Champaign entstand. Der ILLIAC war technisch mit der IAS-Maschine verwandt, die John von Neumann in Princeton baute.

Das Programm für die Suite erstellten der Chemiker Lejaren Hiller und der Mathematiker Leonard Isaacson. Von letzterem wissen wir nur, dass er 1925 geboren wurde, in Chicago aufwuchs und in den späten 1950er-Jahren von der Hochschule zu einer Ölfirma wechselte. Lejaren Hiller war Jahrgang 1924 und Sohn eines New Yorker Fotografen. Er studierte an der Universität Princeton Chemie und Elektrotechnik, außerdem lernte er das Komponieren. Von 1947 bis 1952 war er für den Chemiekonzern du Pont tätig, danach unterrichtete er an der Universität von Illinois.

1955 begannen Lejaren Hiller und Leonard Isaacson die Entwicklung der ILLIAC-Suite. Sie ist für ein Streichquartett gedacht und umfasst vier Sätze oder „Experimente“. Sie basierten wie die Musik des Computers Datatron auf Zufallsprozessen. Bei den ersten zwei Sätzen nahm das Programm Noten aus zwei C-Dur-Oktaven und bildete eine Melodie, einen sogenannten cantus firmus. Zu ihm gesellten sich weitere Töne. Dabei galten die klassischen Regeln fürs Komponieren, etwa die für den Kontrapunkt. Das dritte Experiment produzierte rhythmische Variationen einer Melodie.

Lejaren Hiller, aufgenommen im Jahr 1959 (Courtesy of the University of Illinois Archives, Record Series 39/2/26, Box 31)

Die zwei ersten Sätze der ILLIAC-Suite und der dritte Satz ohne den Schlussteil erlebten am 9. August 1956 ihre Premiere. In einer öffentlichen Veranstaltung der Universität von Illinois spielten vier Musikstudenten. Im November 1956 lagen alle Sätze vor. Im vierten Experiment verwendeten Lejaren Hiller und Leonard Isaacson musikalische Markow-Ketten. Hier ergibt sich jedes Element der Notenfolge aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen aus seinen Vorgängern. Die komplette ILLIAC-Suite kann man sich hier oder hier anhören.

1958 verließ Hiller die Chemie und schloss sich der Musikschule der Universität an. Dort baute er unter anderem ein Studio für experimentelle Musik auf. 1959 veröffentlichte er einen Artikel über die ILLIAC-Suite im Scientific American. Im gleichen Jahr erschien das Buch Experimental Music, das er zusammen mit Leonard Isaacson schrieb. Es brachte viele Details zum Musikstück und die Noten für die vier Instrumente. Lejaren Hiller wurde zu einem angesehenen Lehrer der neuen Musik in Amerika; gelegentlich programmierte er auch noch digitale Stücke. Er starb 1994 in Buffalo.

Zum Schluss sei ein Programm erwähnt, dass vier Studenten der Harvard-Universität 1957 publizierten. Einen von ihnen, Fred Brooks, leitete später die Entwicklung der IBM 360; er starb im November 2022 mit 91 Jahren. Die Software des Quartetts lief auf dem Rechner Mark IV des Computerpioniers Howard Aiken. Sie war eine frühe Form des maschinellen Lernens. Sie analysierte mit der erwähnten Markow-Mathematik 37 Kirchenlieder, danach konnte sie ebenfalls fromme Hymnen komponieren und tat es auch. Insgesamt wurden 600 Stück ausgedruckt.

Unser Eingangsbild kommt von der Ars Electronica (CC BY-NC-ND 2.0); es zeigt den Honda-Roboter Asimo. We thank Sammi Merritt and the University of Illinois Archives for the two photos and the permission to use them in our blog. Aktuelle Komponier-Software liefert Google mit der Eingabe „music generator“.

Lejaren Hiller um 1960 in seinem Studio für elektronische Musik (Courtesy of the University of Illinois Archives, Record Series 39/2/20, Box FAC-4)

 

 

 

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