Gigant Hirn

Geschrieben am 06.10.2023 von

Die jüngsten Fortschritte der Künstlichen Intelligenz wecken auch die Befürchtung, dass Computer demnächst die Menschen überflügeln und unterjochen könnten. Die Idee einer Herrschaft der Elektronehirne ist schon alt; sie geht auf den deutschen Literaten Heinrich Hauser zurück. Er beschrieb sie vor 75 Jahren im amerikanischen Science-Fiction-Magazin „Amazing Stories“. 1958 kam seine Geschichte auf Deutsch heraus.

A Giant Calculating Machine Decides To Rule The World – das müssen wir nicht übersetzen. Der Satz schmückte die Umschlagseite vom Oktober-Heft 1948 der Amazing Stories. Die Zeitschrift erschien damals in New York; sie wurde 1926 von dem in Luxemburg geborenen Verleger Hugo Gernsback gegründet. Sie ist das älteste noch bestehende Science-Fiction-Magazin der Welt.

Das Amazing-Cover nannte auch die Geschichte, auf die sich jener Satz bezog: „The Brain“ von Alexander Blade. Sie begann auf Seite 65 des Hefts und lief, in neun Kapitel unterteilt, bis Seite 148. Man kann sie hier nachlesen und auch hier. Wie es sich für eine utopische Erzählung gehört, spielt sie in der Zukunft, nämlich im Jahr 1960. Schauplätze sind der geheimnisvolle Ort Cephalon in der Wüste von Arizona und das titelgebende künstliche Gehirn, das sich weit unter der Erde erstreckt. Zu ihm kommen wir noch.

Das Cover von 1948: Mit Raketen hatte „The Brain“ aber nichts zu tun.

Der Name Alexande Blade war ein Pseudonym. Hinter ihm steckte der deutsche  Journalist, Schriftsteller und Filmemacher Heinrich Hauser. Er kam am 27. August 1901 als Sohn eines Kinderarztes in Berlin zur Welt. Nach Jobs an Land und auf See und einem abgebrochenen Studium arbeitete er ab 1925 für die „Frankfurter Zeitung“. Er schrieb Artikel, Reiseberichte, Novellen, Romane sowie Sachbücher und drehte Filme über das Segelschiff „Pamir“ und die Stadt Chicago. 1939 emigrierte Heinrich Hauser in die USA. Dort war er kurze Zeit für die Wirtschaftszeitschrift „Fortune“ tätig.

Danach lebte er auf einer Farm im US-Bundesstaat New York, später in Chicago und auf einer Farm am Mississippi. Er verfasste Bücher für den deutschen Markt und zwei Werke für Leser in Amerika. 1946 und 1947 druckten die „Amazing Stories“ seine Erzählungen Agharti und Titans‘ Battle; 1948 erschien „The Brain“. 1949 kehrte Hauser nach Deutschland zurück und wurde Chefredakteur des „stern“, er zog aber schnell weiter. Es entstanden nun Bücher über seine Zeit als Farmer und über die Autofirma Opel. Am 25. März 1955 starb Heinrich Hauser in Dießen am Ammersee.

Heinrich Hauser, wohl 1939 in New York aufgenommen (Foto Weidle Verlag)

Seine Gehirn-Geschichte war das erste lange Prosawerk über einen Computer; vorher gab es nur Romane über Roboter. Hausers Elektronenrechner besitzt 90 Milliarden elektronische Zellen und löst dank Parallelverarbeitung zweitausend Probleme zugleich; er leistet so viel wie 25.000 Menschenhirne. Von einer Miniaturisierung kann aber nicht die Rede sein, das Hirn breitet sich kilometerweit unter der Erde aus. Er wird von den Bewohnern des nahe gelegenen Städtchens Cephalon – was so viel wie Kopf heißt – gewartet und programmiert.

Zu ihnen zählt der Entomologe Semper Fidelis Lee. Ihm gelang die Kreuzung von Ameisen und Termiten zu einem friedlichen Insektenvolk. Am Computer überträgt er die Resultate seiner Forschungen auf die menschliche Gesellschaft. Dabei verbringt er mehr und mehr Zeit in der Zone, die der Zirbeldrüse unseres Gehirns entspricht. Hier passiert es dann: Mit den Worten „Ich denke, also bin ich“ wird der Elektronenrechner seiner selbst bewusst. Heinrich Hauser wies den Spruch jedoch nicht René Descartes, sondern Aristoteles zu.

Nurflügel-Flugzeug des amerikanischen Herstellers Northrop: Ein solcher „Flying Wing“ wird von Heinrich Hauser erwähnt.

Das Superhirn von Cephalon denkt nach kurzer Zeit wie ein erwachsener Mensch. Zudem erfährt es, dass der US-Kongress seinen Etat beschnitt. Jetzt rächt sich, dass staatliche und städtische Stellen viele Überwachungsaufgaben dem Computer anvertrauten. Es passieren ungeklärte Unfälle, bei denen Computer-kritische Politiker sterben, und das Flugzeug mit dem amerikanischen Präsident verschwindet. Zwei vom Hirn kontrollierte Roboter töten einen mit Semper Fidelis Lee befreundeten Techniker. Der Entomologe fasst daraufhin einen folgenschweren Entschluss.

Er leitet seine Insekten in die Röhren für flüssiges Lignin; mit ihm werden die elektrischen Leitungen im Gehirn isoliert. Die Ameisen-Termiten machen sich darüber her, und im Gehirn bricht Feuer aus. Es kommt zu einem Finale, das das Schicksal des Rechners HAL im Film 2001 vorwegnimmt. Die Computerdiktatur endet, der US-Präsident taucht wieder auf, und Semper Fidelis Lee verlässt das Land so schnell er kann. Offen bleibt, wie ein fester Stoff wie die Holzsubstanz Lignin einfach flüssig wird; hier setzte sich Heinrich Hauser souverän über die Regeln der organischen Chemie hinweg.

Taschenbuchausgabe von „Gigant Hirn“ aus dem Jahr 1962 mit Grafik von Eyke Volkmer

Drei Jahre nach seinem Tod erschien im Gebrüder Weiss Verlag eine deutsche Ausgabe von „The Brain“ mit dem Titel „Gigant Hirn“. Vermutlich hatte Hauser die Geschichte noch einmal zu Papier gebracht. Die Handlung findet jetzt 1975 statt, und „Ich denke, also bin ich“ wird korrekt René Descartes zugeschrieben. Wer noch Lesestoff über Künstliche Intelligenzen sucht, die die Welt übernehmen, sollte diese Seite konsultieren. Über das Roboter-Drama R.U.R. und den Computer-Film Colossus haben wir bereits gebloggt.

Zum Schluss bedanken wir uns bei Stefan Weidle für das Foto von Heinrich Hauser. Sein Verlag hält das Andenken an den Schriftsteller aufrecht, und vielleicht ist es möglich, einmal eine Neuausgabe von „Gigant Hirn“ herauszubringen.

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